Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
ihr Vater möge wie von Zauberhand in ihrem Leben erscheinen, sie lieben, sie haben wollen, Teil ihrer Familie sein. Sie hatte sich eine Großmutter gewünscht, die im Garten auftauchte und bewirkte, dass die Blumen wuchsen. Sie hatte sich ein gesundes Herz gewünscht … nicht nur, damit sie laufen und spielen konnte wie alle anderen, sondern, damit ihre Mutter sich keine Sorgen mehr machen und befürchten musste, sie zu verlieren.
Dieses Jahr wünschte sich Rose nur zwei Dinge. Kleine Dinge, klitzekleine – keine große Sache, verglichen mit den riesigen Anliegen, die sie im Lauf der Jahre gehabt hatte. Zwei kleine, geheime Wünsche …
Um halb neun fuhren Marisa und Jessica an dem Schild FAMILIE NEILL, WALBEOBACHTUNGSTOUREN vorbei und bogen auf den Kiesparkplatz ein. Marisa hatte sich immer noch nicht ganz abgewöhnt, einen Blick in den Rückspiegel zu werfen, um zu sehen, ob ihr jemand folgte. Sie hatte diese Gegend als Zuflucht ausgewählt, weil sie so entlegen war – die Wahrscheinlichkeit, dass Ted hier zufällig aufkreuzte, schien gering. Doch insgeheim gab es noch einen weiteren Grund, hierherzukommen, der ihm einen Schock versetzen würde, falls er es jemals herausfände.
Der Urgroßvater ihres Mannes war ein kanadischer Walfänger gewesen. In einem seiner alten Fotoalben hatte sie ein Bild des Walfangschiffes entdeckt – es lag genau an diesem Kai, im Winter; die schneebedeckten Klippen des Fjords erhoben sich majestätisch hinter den mit Eis überzogenen Sparren. Bei der Betrachtung des Bildes hatte sie den Eindruck gewonnen, dass der Hafen aussah, als befände er sich am Ende der Welt. Idyllisch, von herber Schönheit und geheimnisvoll.
Als sie nun den Wagen parkte, fuhr sie rückwärts in die Parklücke – damit sie sehen konnte, was auf sie zukam. Sie hasste es, wenn sich jemand von hinten anschlich.
Sie hatte einen Mann verlassen, der so brutal war, dass er nicht einmal davor zurückscheute, den kleinen Hund ihrer Tochter umzubringen – nur weil er nachts bellte. Sie hatte sich gezwungen gesehen, ihr Kind zu entwurzeln, bei Nacht und Nebel das Weite zu suchen und Geburtstage für sie beide zu erfinden, um ihn von ihrer Spur abzulenken. Sie hatte gelernt, auf der Hut zu sein, immer und überall.
Sie öffnete ihre Handtasche und holte eine kleine Schachtel heraus.
»Schatz, ich weiß, dass wir vereinbart hatten, uns strikt an unsere Geschichte zu halten, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, dir etwas zu schenken. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag …«
»Mommy! Ist das für mich? Darf ich es aufmachen?«, rief Jessica.
»Ja. Heute ist dein richtiger Geburtstag. Und ich dachte, wir könnten Roses Party benutzen, um ihn heimlich zu feiern.«
Jessica löste das Band, riss das Papier auf und öffnete die kleine Samtschachtel. Ihr Blick wog sämtliche Probleme auf, mit denen sie beide konfrontiert worden waren: Ihre Augen spiegelten unverfälschtes, vollkommenes Glück.
»Das ist ja Grannys Ring!«
»Genau. Sie hat ihn schon getragen, als sie noch Schwesternschülerin war …«
»Und als Krankenschwester in der Navy, auf einer Kinderstation und in der Privatpflege, richtig?«
»Richtig. Du kennst ja die Geschichten. Sie war mit Leib und Seele dabei, wenn es galt, Menschen zu helfen, was mich dazu bewog, ebenfalls Krankenschwester zu werden. Vielleicht trittst du eines Tages auch in ihre Fußstapfen.«
»Damit ich Rose helfen kann?«
Marisa nickte. Sie war gestern Abend lange wach geblieben und hatte alles verschlungen, was sie über die Pflege im Bereich Kinderkardiologie fand. Sie kannte Roses Diagnose nicht, aber die Symptome und die bevorstehende Operation sagten ihr, dass der Zustand des Mädchens ernst war. Vielleicht verlieh der Ring von Marisas Mutter Jessica das Gefühl, die schwere Erkrankung ihrer Freundin sei bis zu einem gewissen Grad unter Kontrolle.
»Mommy, werden wir seekrank auf dem Boot?«
»Nein, deshalb habe ich dir dieses Armband besorgt.« Marisa streifte das elastische Armband über Jessicas schmales Handgelenk. »Die kleine Perle drückt gegen den Puls und verhindert, dass dir von der Bewegung des Bootes übel wird.«
»Was ist mit dir? Trägst du auch eins?«
Marisa antwortete nicht, konzentrierte sich darauf, das Armband in die richtige Lage zu bringen.
»Mom, du kommst doch mit, oder?«
»Schatz, ich muss zu Hause noch einiges tun.«
»Was denn? Schlafen?« Die Worte rutschten Jessica heraus und ließen sich nicht mehr
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