Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
niemanden.«
Liam stand reglos da, lauschte dem Spiel der Band. Sein Arm begann zu jucken – nicht der rechte gesunde, sondern der linke, nicht mehr vorhandene. Die Haut prickelte wie Nadelstiche – als wenn allmählich das Gefühl in einen Arm zurückkehren würde, der vom langen Liegen taub geworden war. Die Band stimmte einen sentimentalen Walzer an, und die Gäste an den Tischen standen auf, um zu tanzen.
»Lily …«, begann Anne, doch Liam unterbrach sie. Er wandte das Gesicht seiner angeheirateten Cousine zu, die Augen eisig.
»Lily wird sich nicht der gleichen Situation gegenübersehen wie meine Mutter. Ich musste tatenlos zuschauen, wie Connor starb, aber bei Rose werde ich das zu verhindern wissen.«
»Liam! Das sind zwei Paar Schuhe! Du hättest Connor nicht retten können – niemand wäre dazu in der Lage gewesen. Dieser Hai war ein Monster – und du warst ein kleiner Junge, kaum älter als dein Bruder.«
»Haie sind keine Monster. Sie sind nur Fische. Mein Bruder hätte sich gar nicht erst in diesem Gewässer aufhalten dürfen. Keiner von uns … So, und jetzt muss ich los. Viel Spaß morgen bei der Bootstour. Pass ein bisschen auf Rose auf, ja?«
»Das tun wir alle.« Annes blaue Augen wirkten besorgt.
Liam drehte sich um und schickte sich zum Gehen an. Er durchquerte mit weit ausholenden Schritten die mit Wochenendgästen angefüllte Lobby, die in die kleine Stadt gekommen waren, um die Idylle, den Frieden und den Auftritt der Band zu genießen. Er spürte, dass sie einen großen Bogen um ihn machten. Er war groß und dunkel, strahlte Düsterkeit aus. Seine Prothese zog unwiderruflich Aufmerksamkeit auf sich. Er wich von der Norm ab, war anders.
›Hook‹ hatten ihn seine Mitschüler in der Highschool genannt. ›Scar‹ hatten sie hinter seinem Rücken getuschelt, wenn sie ihn im Sportunterricht ohne T-Shirt sahen, wenn sie die gezackten Narben entdeckten. Die plastische Chirurgie war nicht das gewesen, was sie heute war, und der 35cm große Radius der Bisswunde – sie stammte von einem noch nicht ausgewachsenen, großen weißen Hai, genau wie der Hai in dem Bericht, den er vorhin gelesen hatte, der den Surfer in Halifax angegriffen hatte – sah aus wie ein Krater in seinem Fleisch. Der Biss war so tief gewesen, dass die sägeartigen Zähne drei seiner Rippen geritzt hatten.
Seltsam war, wie er beim Verlassen der Lobby des Cape Hawk Hotels feststellte, dass er sich immer noch anders fühlte, wenn auch nicht mehr aus demselben Grund wie früher. Es ging weniger um seinen Arm oder seine Narben. Sie waren ein Teil von ihm geworden. Nein, er fühlte sich anders, weil er einsam war. Obwohl er seine Verwandten um sich hatte, sah er überall nur Paare und Familien mit Kindern, die am Wochenende nach Cape Hawk kamen. Zeit miteinander verbrachten.
Annes Worte, Lily habe niemanden, hatten ihm einen Stich versetzt. Er fühlte, dass sie auch auf ihn zutrafen.
Ein Gefühl, das schlimmer war als alles, was man sich vorstellen konnte.
Kapitel 6
D er Tag war herrlich, wolkenlos und klar, perfekt für eine Bootstour. Rose wachte mit der Sonne auf. Sie lag im Bett und beobachtete, wie die orangefarbenen Strahlen durch das Geäst der Kiefern drangen. Sie weckten alle Vögel des Waldes auf, und plötzlich erfüllte Gezwitscher die Luft. Rose lag reglos da und lauschte, sann darüber nach, ob Nanny die Vögel wohl hören konnte, und wusste, dass sie ihr ein Geburtstagsständchen brachten. Würde Nanny zu ihrer Party erscheinen? Es gab kaum etwas, das ihr wichtiger war. Außer dem Wunsch, Dr. Neill dabeizuhaben …
Als sie sich im Bett aufsetzte, spürte sie ein Ziehen in der Brust. Es raubte ihr den Atem. Sie legte sich wieder hin, nur für ein paar Minuten, mit angezogenen Knien und geschlossenen Augen. Draußen wurden die Vögel lauter, als träfen mit jeder Minute mehr ein. Nach dem langen Winter zogen sie gen Norden. Rose stellte sich vor, wie erschöpft sie sein mussten, wie schnell ihre kleinen Herzen schlugen.
Dr. Neill hatte ihr erzählt, dass Fichtenfinken riesige Strecken zurücklegten, bis Südafrika – Vögel, die nicht größer waren als ein Kiefernzapfen! Und dass Wale und Delfine jedes Jahr ins Karibische Meer wanderten. Wenn es ihnen gelang, solche Herausforderungen zu meistern – so weite Wege zurückzulegen, fliegend oder schwimmend –, war auch sie in der Lage, über sich selbst hinauszuwachsen. Sie musste nur gesund genug bleiben, um die Operation durchzustehen.
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