Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
zurücknehmen – Marisa sah das Bedauern in ihren Augen.
»Sag das nicht«, erwiderte Marisa, aber Jess hatte recht; seit dem Umzug nach Cape Hawk hatte sie die meiste Zeit damit verbracht, sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Das war typisch für eine ausgewachsene Depression: Sie zehrte an den Kräften, stahl jegliche Hoffnung, weckte das Bedürfnis, sich im Dunkeln zu verkriechen. Und wenn sie an die Ursachen ihrer Depression dachte – dieselben Gründe, die sie bewogen hatten, sich selbst und Jess aus dem gewohnten Umfeld zu reißen und an einem meilenweit entfernten Ort Zuflucht zu suchen –, fühlte sie sich so ausgelaugt und hilflos, dass der Schlaf reizvoll erschien.
»Wenn du nicht mitkommst, gehe ich auch nicht.«
»Jess, das ist nicht dasselbe. Rose ist deine Freundin, und sie möchte, dass du bei ihrer Party dabei bist. Du hast ein Geschenk für sie und eine wunderschöne, selbst gemachte Glückwunschkarte. Ihre Mutter ist mit all ihren Freundinnen an Bord, und ich kenne niemanden … Abgesehen davon, muss ich wirklich putzen. Du weißt, ich war in letzter Zeit etwas nachlässig …«
In dem Moment bog ein weiterer Wagen auf den Parkplatz ein, der laut hupte. Es waren Lily und Rose, strahlend und winkend. Rose hüpfte vor Freude auf ihrem Sitz auf und ab. Marisas Herz schlug schneller, und sie spürte, dass sie unwillkürlich lächelte – ein aufrichtiges Lächeln, das aus ihrem tiefsten Inneren kam. Gleichzeitig füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann – mit Ausnahme von Jessica – sich das letzte Mal jemand aufrichtig gefreut hatte, sie zu sehen.
Lily und Rose stiegen aus und kamen herüber. Marisa kurbelte die Scheibe herunter.
»Ihr müsst nicht im Auto warten«, sagte Rose. »Wir können schon an Bord gehen!« Sie lachte Jessica an, die ihre Mutter durch das offene Fenster ansah.
»Bitte!«, flüsterte Jess.
»Ihr kommt doch mit, oder?« Rose richtete ihren Blick nun ebenfalls auf Marisa.
»Natürlich, ihr müsst mitkommen!«, sagte Lily. »Wir haben ein kleines Geschenk für alle Gäste vorbereitet – und auf einem steht euer Name!«
»Mom?«
Marisa spürte, wie das Lächeln – nicht das auf ihrem Gesicht, sondern das in ihrem Inneren – wuchs. Lily blickte sie an, ihre Augen hell und leuchtend. Marisa hatte das seltsame Gefühl, dass Lily verstand, warum sie zögerte. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie ihre Gedanken lesen konnte, ob sie wusste, was mit ihr los war; sie fühlte sich schon seit langem dünnhäutig und leicht durchschaubar.
»Ich kann nicht«, hörte sich Marisa sagen, und plötzlich flossen die Tränen, als hätte jemand den Wasserhahn aufgedreht.
Lily griff in das offene Fenster und legte ihre Hand auf Marisas. Marisa empfand die Berührung wie einen Stromstoß, der unter die Haut ging, und Lilys Blick war eindringlich und verständnisvoll. In dem Moment stieg Jessica aus und entfernte sich ein paar Schritte mit Rose, um einen Blick in die Schaufenster des Souvenirladens zu werfen.
»Ich kann nur raten, was los ist. Aber ich denke, ich weiß, was Sie quält«, sagte Lily.
»Ich kann mit niemandem darüber reden.«
»Trotzdem finde ich, wir sollten uns unterhalten. Nicht jetzt, wegen der Party. Aber bald. Kommen Sie mit aufs Boot, bitte. Wir Frauen sind ganz unter uns. Kommen Sie, Jessica zuliebe. Sie braucht das Gefühl, dass Sie stark sind, Freude am Leben haben.«
»Mir ist nicht nach Gesellschaft zumute …«
Lily lächelte. »Haben Sie sich deshalb diesen Zufluchtsort am Ende der Welt ausgesucht?«
»Wie haben Sie das erraten?«
»Das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal … und jetzt muss ich an Bord gehen, Rose zuliebe. Kommen Sie mit?«
Marisas Handflächen waren feucht, aber sie nickte. Seltsam, ihre Jahre als Krankenschwester hatten sie einiges über Dissoziation oder Abspaltung gelehrt – dass viele traumatisierte Menschen rein mechanisch ihren alltäglichen Verrichtungen nachgingen, ohne zu merken, was sie taten. Als sie ihre Handtasche, Jessicas Geschenk für Rose und ihre Autoschlüssel nahm, wurde ihr klar, dass sie seit ihrer Ankunft auf Cape Hawk wie eine Schlafwandlerin durchs Leben gegangen war.
Als sie den Wagen abschloss und spürte, dass Lily ihre Hand drückte, wusste sie, dass sie im Begriff war, aus dieser Starre zu erwachen. Sie war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel, aber Lilys Lächeln war so strahlend und real, dass sie dachte, es sei vielleicht doch einen
Weitere Kostenlose Bücher