Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Nur noch eine Operation und alles würde in Ordnung sein.
Manchmal half ihr das Nachdenken dabei, dass sie sich besser fühlte – genau wie Träume von Vögeln, von Nanny und von ihrem Geburtstag. Ihre beste Freundin Jessica … Sie dachte an Jess, an ihre scherzhafte Bemerkung, dass sie am selben Tag Geburtstag hätten. War das wirklich ein Scherz gewesen? Sie hatte nicht das Gefühl. Sie hätte schwören mögen, dass es stimmte – was im Übrigen wundervoll gewesen wäre. Ganz langsam setzte sie sich abermals auf, schwang die Beine über die Bettkante. Sie musterte ihre Hand, die sich an die Matratze klammerte. Durch die Krankheit waren ihre Fingerspitzen leicht keulenförmig geworden – ein weiteres Merkmal, das sie von anderen unterschied. Heute machte ihr das nichts aus. Ich habe schließlich Geburtstag, dachte sie und stand auf. Der Schwächeanfall war vorüber. Der böse Zauber war vorbei. Barfuß tappte sie durch die Diele, roch frisch gepressten Orangensaft.
»Guten Morgen, mein Schatz«, sagte ihre Mutter. »Alles Gute zum Geburtstag …«
»Danke. Jetzt bin ich neun.« Rose lächelte.
Ihre Mutter erwiderte das Lächeln. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie nach Symptomen Ausschau hielt, und Rose versuchte, diese, so gut es ging, zu kaschieren. Eigentlich hätte sie erzählen müssen, dass sie vorhin einen hypoxämischen Anfall gehabt hatte und blau angelaufen war, aber sie fürchtete, dass ihre Mutter dann möglicherweise die Party absagen würde.
Deshalb mogelte sie sich durch die Blitzinspektion, trank ihren Orangensaft und aß ihr Müsli, nahm die Vitamine und das Antibiotikum ein – als Vorbereitung auf die Operation, um einer möglichen Herzinfektion vorzubeugen, die den Eingriff verzögert hätte. Ihre Mutter hatte eine CD eingelegt: eines von Roses Lieblingsstücken, ›Aurora‹ von Spirit. Allein das Zuhören machte sie glücklich, und sie wusste, ihre Mutter hatte diese Musik ausgewählt, weil sie ihr so gut gefiel.
»Sollen wir die für die Bootsfahrt aufheben?«, fragte ihre Mutter, mehrere eingewickelte Päckchen in der Hand.
Rose rieb sich die Hände und wippte auf ihrem Stuhl auf und ab. Das Lächeln ihrer Mutter wurde strahlender, als sei sie erfreut über Roses Aufregung. »Müssen wir?«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Wir müssen gar nichts, Schatz. Es ist dein Geburtstag – du kannst die Geschenke jetzt gleich aufmachen, wenn du möchtest.«
Gesagt, getan. Ihre Mutter hatte jedes Päckchen anders eingewickelt – in hübschem Papier mit blauem Geschenkband und rosafarbenen Rosen oder Vögeln, die in herzförmiger Anordnung flogen. Rose knüpfte die Schleifen auf, entfernte das Geschenkpapier und entdeckte vier Bücher, ein Teleskop, ein abschließbares Tagebuch und das neue Geburtstags-Stickbild.
»Mama.« Sie rollte das Gitterleinen auseinander. Es war noch nicht gerahmt wie die anderen. Rose spürte das Quadrat in ihren Händen – die feinen Maschen rund um die Kanten, das weiche Garnfeld des Bildes, das aus dem Herzen ihrer Mutter kam –, es zeigte die neueste Phase in Roses Lebensgeschichte, die sie an die Wand ihres Zimmers hängen konnte. »Das ist wunderschön.«
»Gefällt es dir?« Ihre Mutter hatte den Arm um sie gelegt und beugte sich über Roses Schulter.
»Und wie.« Rose betrachtete die Bilder von Cape Hawk: Die weitläufige geschwungene Bucht mit den hohen Klippen und Kiefern im Hintergrund, das imposante weiße Hotel … und im Vordergrund zwei Mädchen, unverkennbar Rose und Jessica – die auf dem Rücken eines weißen Wals ritten. »Meine allerbeste Freundin und ich«, staunte Rose.
»Jeder Mensch braucht einen allerbesten Freund, mein Schatz.«
»Kommt sie heute?«
»Jessica? Ich denke schon, meinte ihre Mutter zumindest. So, und jetzt müssen wir uns beeilen. Das Boot legt um Punkt neun ab, und wir wollen doch nicht, dass es ohne das Geburtstagskind losfährt.«
Rose nickte. Während ihre Mutter in Windeseile den Abwasch erledigte, ging sie durch die Diele in ihr Zimmer, um sich für die Party umzuziehen. Sie legte das Stickbild auf ihr Bett und betrachtete die lächelnden Gesichter – Rose und ihre beiden Freundinnen, die eine alt, die andere neu. Sie schloss die Augen, stand am Fenster und äußerte lautlos einen Wunsch, einen ganz großen Herzenswunsch …
Ihr Geburtstag war immer mit verschiedenen Wünschen verbunden gewesen, meistens waren sie geheim. In den letzten Jahren hatte sie sich gewünscht,
Weitere Kostenlose Bücher