Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Blutflecken vorne an der Spitze gefunden. Von mir aus behalten Sie die Stiefel bis an Ihr Lebensende, aber ich wüsste gern, warum Mara sie hier zurückgelassen hat.«
»Mara hat sich den Daumen an einer Dorne aufgerissen«, erwiderte Maeve heftig. Sie wagte nicht, an Blut in Zusammenhang mit Mara zu denken – oder an irgendwelche Verletzungen, Nöte oder Schreckensszenarien, die sich die Polizei damals ausgemalt hatte. Sie ertrug die Vorstellung nicht. Sie presste die Lippen zusammen, um Patrick wissen zu lassen, dass das Thema für sie beendet war.
»Gibt es etwas Neues von … Wie hieß dieses Arschgesicht gleich wieder?«, fragte Patrick.
»Mr. Wunderbar.«
»Wie kommt es, dass keiner von uns beiden Lust hat, seinen Namen auszusprechen?«
Maeve bemühte sich, keine Miene zu verziehen. Worte vermochten den abgrundtiefen Hass nicht zum Ausdruck zu bringen, den sie für Edward Hunter empfand; allein bei dem Gedanken an seinen Namen verkrampfte sich ihr Magen, und ihr Gesicht verzog sich. Sie ließ ihre linke Hand unter die Sitzfläche der Bank gleiten, umschloss mit ihren Fingern das Schaftende eines der gelben Stiefel. Es war tröstlich, sich an etwas zu klammern, was Mara getragen hatte. Das gab ihr das Gefühl, ihre Enkelin sei greifbar und lebendig.
»Er schreibt eine Karte oder ruft bei größeren Anlässen an. Weihnachten, an ihrem Geburtstag …«
»Worüber reden Sie mit ihm?«
»Ich spiele ihm etwas vor, mein Lieber. Ich bedanke mich für den Anruf und erkundige mich nach seiner beruflichen Laufbahn, nach seiner ›Familie‹.« Sie musste das Wort – Familie war ein so kostbares Wort – in unsichtbare Anführungszeichen setzen, wenn sie es in Verbindung mit Edward und seinen neuen Opfern benutzte – er hatte Mara für tot erklären lassen, damit er eine seiner Klientinnen aus dem Wertpapierhandel heiraten konnte. »Ich habe gelernt, meinen Feind in Sicherheit zu wiegen. Man kann nie wissen, was er als Nächstes vorhat. Er lebt in …«
»Boston.«
Maeve blinzelte verdutzt. »Nein – in Weston, mit seiner zweiten Frau.«
»Sie hat ihn im letzten Frühjahr verlassen.« Patrick genoss es, ihr diese Neuigkeit überbringen zu können. »Ihr Haus stand zum Verkauf, und sobald es veräußert war, hat sie sich abgesetzt. Hat aber nicht viel von dem Geld gesehen, wie ich hörte. Der Großteil ihres Vermögens ist auf einem Treuhandkonto gelandet, aber sie hat die Verluste in den Wind geschrieben, ihre Tochter genommen und ist gegangen. Wie es aussieht, wird er sich ihre gesamte Barschaft unter den Nagel reißen – beziehungsweise das Geld, das er ihr nicht schon vorher aus der Tasche gezogen hat. Eines haben Edwards Frauen gemein. Sie geben alles auf, nur um von ihm wegzukommen.«
Maeve wusste nichts darauf zu erwidern. Schweigend ließ sie ihre Finger immer wieder um den Stiefelrand gleiten. Ach, wenn Mara doch nur beschlossen hätte, den heutigen Tag … diesen Tag zu wählen, um aus ihrem Versteck aufzutauchen, durch das Gartentor zu kommen, das vor vielen Jahren niedergerissen worden war … wenn sie einfach hereinspazieren würde, ihr Baby auf dem Arm.
Die Wirklichkeit versetzte ihr einen Schock – das Kind wäre längst kein Baby mehr, sondern neun Jahre alt.
»Verlorene Zeit«, sagte Maeve. »Wenn ich an die Jahre ohne sie denke. Ich habe sie großgezogen, wie Sie ja wissen.«
»Ich weiß, Maeve. Nachdem ihre Eltern bei dem Fährunglück ums Leben gekommen waren.«
»In Irland. Ein poetischer Ort und eine poetische Art zu sterben. Redete ich mir damals zumindest ein. Doch wenn ich Mara im Arm hielt, die sich jeden Abend in den Schlaf weinte, wurde mir klar – es gibt keine poetische Todesart.«
»Wie wahr.«
»Entschuldigung. Sie waren ja in der Mordkommission tätig.«
»So ähnlich, im Dezernat für Kapitalverbrechen, genauer gesagt dem Major Crime Squad.«
»Habe ich Ihnen schon erzählt, dass Sie mich an einen alten Freund erinnern, einen irischen Dichter namens Johnny Moore?«
»Jedes Mal, wenn wir uns sehen. Ich verstehe aber immer noch nicht, warum.«
»Weil Sie Briefe an eine Frau schreiben, die Sie für tot halten. Deshalb. Kommen Sie. Gehen wir ins Haus, ich habe Eistee vorbereitet. Vielleicht kommt Clara auf einen Sprung mit Zuckerplätzchen vorbei, wenn ich ihr Bescheid gebe, dass Sie da sind.«
»Zuckerplätzchen.« Patrick streckte die Hand aus, um Maeve aufzuhelfen. Dabei fiel sein Blick auf die alte Gartenbank. Von demselben Kunstschmied gefertigt,
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