Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
auf die Frage, die Lily nicht zu stellen wagte. Stumm standen sie beieinander, während das Boot schneller und schneller fuhr. Mütter und Töchter, Freundinnen in dieser kalten Klimazone, rückten für Lily und Rose zusammen.
»Möge das Meer dich wiegen, mögen die Engel dich beschützen«, flüsterte Jessica.
»Was war das?«, fragte Allie.
»Ein irisches Gebet, von meinem Vater.«
Marisa kümmerte sich um die kleine Patientin, sanft und nachhaltig zugleich. Wie eine erfahrene Krankenschwester auf der kardiologischen Station brachte sie Rose in die stabile Seitenlage, zog ihr die Knie zur Brust. Sie beugte sich zu ihr hinab, flüsterte ihr ins Ohr, zählte die Herzschläge, während sie den Puls fühlte, den Blick auf ihre Armbanduhr gerichtet.
Nun legte sie das Ohr auf Roses Brustkorb, und als sie aufstand, runzelte sie die Stirn. Sie tastete Roses Seite ab, ließ sich Zeit. Liam hielt die Sauerstoffmaske, korrigierte die Zufuhr. Jude sprach über SSB-Funk mit der Küstenwache, doch als es um medizinische Fragen ging, die er nicht beantworten konnte, gab er das Mikrophon an Marisa weiter, die sagte: »Die Patientin ist neun Jahre alt … Fallotsche Tetralogie … Wiederherstellungschirurgie vorgesehen, aber … ja, Pulmonalklappenstenose … vergrößerte Leber. Nieren. Die Operation sollte in Boston stattfinden, aber ich glaube nicht …«
Lily hörte Marisas Worte, aber plötzlich verlor sie den Faden, nahm sie nur noch verschwommen wahr. Weil Liam sich halb zu ihr umgedreht hatte, um sie mit einem breiten Lächeln anzuschauen und zu nicken, auf Rose zu deuten, die ihre Augen aufgeschlagen hatte, hellgrüne Augen, lebendig, die Augen eines Geburtstagskindes. Rose sah sich suchend um, und da Liam wusste, wem der Blick galt, trat er einen Schritt beiseite, die Sauerstoffmaske noch immer an ihren Platz haltend, damit Rose ihre Mutter sehen konnte.
Kapitel 9
M aeve Jameson saß in ihrem Garten auf der antiken schmiedeeisernen Bank, im Schatten der Meereichen. Der Duft der Rosen erfüllte die salzhaltige Luft, und die Wärme des Sommers stieg vom felsigen Boden auf. Ein lauer Wind wehte, raschelte in den Blättern. Ihre Augen waren geschlossen und jeder, der zufällig vorbeiging, hätte den Eindruck gewinnen können, ein Bild des Friedens vor sich zu haben. Doch weit gefehlt.
Die Flut hatte eingesetzt. Die Wellen brandeten höher und höher gegen die Felsen. Sie konnte nicht umhin, sich zu erinnern, wie sich ihre Kleine im Wasser vergnügte, wie eine Robbe schwamm, mit ihren braunen Haaren, glatt und eng am Kopf anliegend. Sie tauchte gerne so tief wie möglich, die Hände voller Muscheln und Seetang, wenn sie wieder hochkam. Maeve hatte auf ebendieser Bank gesessen und ihr zugeschaut, wenn sie stundenlang tauchte und schwamm.
Als sie hörte, wie die Autotür zugeschlagen wurde, holte sie tief Luft. Sie hatte den Besuch erwartet. Er war abzusehen gewesen – wie jedes Jahr. Doch dieses Jahr sah sie ihm mit anderen Gefühlen entgegen. Ihr Herz war schwer, als sei ein weiterer Hoffnungsfunke erloschen.
»Ein herrlicher Morgen, Maeve.« Sie schaffte es kaum, die Augen zu öffnen, um ihn anzuschauen. Als es ihr endlich gelang, lächelte sie. Sie konnte nicht anders. Er wirkte immer noch so jungenhaft, attraktiv und enthusiastisch wie vor Jahren, als er zum ersten Mal als junger Polizist auf ihrer Türschwelle gestanden hatte. Sein Hund, ein schwarzer Labrador, sauste schnurstracks an Maeve vorbei, den Hügel hinab, zum Rand des Wassers.
»Morgen? Es ist drei Uhr nachmittags«, berichtigte sie ihn.
»Wollen Sie sich schon mit mir anlegen, bevor ich auch nur die Chance hatte, durch die Gartenpforte zu treten?«
»Junger Mann, die Gartenpforte wurde schon vor Jahren entfernt. Herein mit Ihnen, betreten Sie ruhig den geheiligten Boden.« Er ging am Wunschbrunnen mit dem geschwungenen schmiedeeisernen Bogen vorbei, auf dem die Worte Sea Garden prangten – der Name, den Mara dem Anwesen als kleines Mädchen gegeben hatte. Patrick warf einen verstohlenen Blick auf die Lettern, die wie Spinnenbeine wirkten – nachdem das Eisen all die Jahre der salzigen Luft ausgesetzt gewesen war.
»Geheiligter Boden, aha.« Nun stand er vor ihr.
» Sea Garden . Der verwunschene Garten am Meer. Der immer noch auf die Rückkehr der jungen Maid wartet.«
»Maeve …«
»Junger Mann – jetzt werden Sie mir gleich raten, realistisch zu sein, oder? Ich höre es an Ihrem Tonfall. Neun Jahre sind inzwischen
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