Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
hören«, sagte Anne.
Im Hintergrund, aus dem großen Salon, vernahm Lily ein Riesengetöse. Die Mädchen kreischten auf, dann schrie jemand: »Ein Pirat!«
Roses Trauma schien sich wie eine Schockwelle auszubreiten – sie erfasste die Mädchen, und plötzlich schluchzten alle. Lily packte ihre Tochter, riss sie Jude aus den Armen. Wenn er nicht wusste, was zu tun war, musste sie eben selbst Erste Hilfe leisten. Sie hatte bereits mit der Mund-zu-Mund-Beatmung begonnen, versuchte sich zu erinnern, wie man zählte, eins, zwei, eins, nein … Sie schmeckte das Salz ihrer eigenen Tränen, den süßen Punsch auf Roses Lippen, hörte die Mädchen weinen, hörte, wie sie ›Captain Hook‹ schrien.
Lilys Tränen verwandelten sich in ein Schluchzen, als sie den Namen hörte. Liam war da, wie konnte es auch anders sein. Sie spürte seine gesunde Hand auf ihrer Schulter. Jude erklärte, was passiert war, beschrieb hastig und mit lauter Stimme, wie Rose am Ruder gestanden hatte und unvermittelt zusammengebrochen war. Anne gebot ihm zu schweigen, warf ein, dass die Einzelheiten keine Rolle spielten, es galt, sofort zu handeln.
»Fahr los, Jude«, sagte Liam.
»Wohin?«
»Nach Port Blaise!«
»Nein!«, rief Lily. »Das ist zu weit. Das schafft sie nicht. Bring uns zum Kai und ruf einen Krankenwagen, wir fahren zum medizinischen Zentrum – Dr. Mead kennt sie, dort ist sie am besten aufgehoben …«
»Port Blaise hat einen Hubschrauberlandeplatz, Lily. Wir können den Rettungshubschrauber holen, jetzt gleich.«
»Die Küstenwache«, sagte Anne. »Ich benachrichtige sie.«
Lily verlor beinahe das Gleichgewicht, als die Tecumseh II lospreschte. Sie war die schnellste in der Flotte der Familie Neill und raste nun wie der geölte Blitz auf ihrer Gleitfläche durch die Bucht.
»Aber das dauert zu lange«, versuchte Lily ihnen klarzumachen. Diese Leute liebten Rose und sie, daran konnte es keinen Zweifel geben. Aber sie hatten nicht neun Jahre lang ein Kind mit Herzdefekten großgezogen. Sie begriffen nicht, dass jede Sekunde zählte – dass keine Zeit blieb, zum Hubschrauberlandeplatz zu fahren, um von dort aus zum medizinischen Zentrum zu fliegen. Rose lag reglos und kalt da. Lily weinte, von Panik erfasst.
Liams Arm löste sie von ihrer Tochter.
»Nein!«, schrie Lily auf.
»Komm«, sagte er rauh. »Anne!«, rief er, Hilfe suchend.
Anne war sofort zur Stelle – und mit ihr alle Nanouks, die sie mit vereinten Kräften von Rose wegzogen. Lily wand sich, wollte nicht loslassen. Sie hörte Marlenas Stimme und Cindys und Doreens …
»Komm, Lily«, sagte Marlena. »Sie ist in guten Händen.«
»Wirklich, Lily. Lass die beiden nur machen«, versicherte Anne.
Ihre Worte bewirkten, dass Lily den Blick hob – und sie sah, dass sich Rose wirklich in guten Händen befand …
Marisa war aus der Gruppe vorgetreten. Der Schmerz in ihren Augen war verschwunden. Von der Körper- und Geisteshaltung einer misshandelten Frau, die einem verwundeten Vogel glich, war keine Spur mehr vorhanden. Selbstbewusst und hoch erhobenen Hauptes kniete sie neben Rose, eine Hand behutsam auf deren Brustkorb gelegt, während die andere den linken Arm hinunterglitt und den Puls suchte. Sie nickte.
Neben Marisa holte Liam das Sauerstoffgerät für die Notversorgung aus dem Erste-Hilfe-Kasten und streifte mit seiner gesunden Hand den grünen Riemen über Roses Kopf, so dass die durchsichtige Plastikmaske ihren Mund umschloss.
Von den Nanouks gehalten, glaubte Lily spüren zu können, wie der Sauerstoff in ihren eigenen Mund, ihre Nase, ihren Blutkreislauf strömte. Ihre Lungen füllten sich – die Atemluft war klar und rein, brachte Leben in alle Teile des Körpers zurück, die abzusterben drohten. Sie merkte, wie Marlena ihr den Rücken rieb, Cindy ihre linke Hand hielt und Anne ihre rechte Hand umklammerte. Die Übrigen waren ebenfalls zur Stelle, aufgefächert wie eine Mannschaft, Lilys und Roses Mannschaft, Mütter und Töchter. Während Marisa Rose versorgte, drückte sich Jessica an Lilys rechtes Bein. Die Nanouks umringten sie, sahen schweigend zu. Sie erlebten nicht nur den Geburtstag, sondern auch die Lebensrettungsaktion hautnah mit. Lily schauderte vor Entsetzen, jedoch gepaart mit dem Gefühl eines unbestimmten Glücks, das zu urwüchsig war, um es zu benennen.
»Sie hat schon so viel durchgemacht«, schluchzte sie.
»Das schafft sie auch noch«, erklärte Anne, beinahe streng.
»Was ist, wenn …«
Niemand antwortete
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