Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
angedeihen ließ, wieder Kontakt zu einem tiefen, verborgenen Teil ihres Selbst gefunden, der im Wirrwarr der Flucht lange unbeachtet geblieben war.
»Ich weiß nicht viel über die Klinik in Melbourne«, sagte Marisa. »Ich bin ja erst seit kurzem hier in der Gegend. Aber die Mannschaft des Rettungshubschraubers schien mir wirklich kompetent und achtsam zu sein.«
»Ja, fand ich auch, und die Klinik hat einen guten Ruf. Vor allem auf dem Gebiet der Palliativmedizin. Rose war schon oft dort. Marisa, ich habe gesehen, dass du ihren Bauch abgehört hast. War da etwas?«
»Flüssigkeit«, antwortete Marisa zögernd. »Und Lily: Leber und Nieren fühlten sich vergrößert an.«
Lily nahm die Information auf und speicherte sie unverzüglich in einem Teil ihres Gedächtnisses, der weder mit ihrem Herzen in Berührung kam noch mit ihm kommunizierte – zumindest nicht während der langen Fahrt nach Melbourne. Sie konnte sich nicht erlauben zu weinen, denn dann lief sie Gefahr, im Straßengraben zu landen. Das ging nicht an, Rose brauchte sie.
Marisa umarmte sie plötzlich, und sie registrierte überrascht, wie fest der Griff ihrer neuen Freundin war – als wollte sie nie mehr loslassen.
»Wofür war das?«, fragte Lily.
»Nur so – danke. Weil du mich verstehst.«
»Ich verstehe dich, weil ich selbst in der Situation war«, erwiderte Lily leise. »Die Welt besteht aus zwei Kategorien von Frauen. Frauen, die Männer wie unsere beiden geliebt haben, und die anderen, an denen dieser Kelch vorübergegangen ist. Eine Beziehung zu beenden ist eine Sache, sich von der Ehe mit einem Psychopathen zu erholen steht auf einem anderen Blatt. Wir setzen uns zusammen, sobald ich zurück bin, ja? Ich möchte deine Geschichte hören, und ich erzähle dir meine.«
»Vielen Dank, gerne, und grüße Rose von mir.«
»Mache ich.«
Lily rüstete sich innerlich für die Fahrt – sie würde jemanden von der Küstenwache bitten müssen, sie zu dem Einkaufszentrum ein paar Meilen entfernt zu bringen, wo sie mit neunzigprozentiger Sicherheit eine Leihwagenfirma gesehen zu haben glaubte. Sie klopfte gegen ihre Taschen, um sich zu vergewissern, dass sie ihren Hausschlüssel dabeihatte, und warf immer wieder einen Blick auf ihre Umhängetasche, um sicherzugehen, dass sie diese nicht auf dem Boot vergaß. Sie wusste, dass sie sich in einem ihr vertrauten Schockzustand befand – wie jedes Mal, wenn Rose ins Krankenhaus musste.
Die Nanouks waren ebenfalls von Bord gegangen, versuchten sie zu überreden, ein paar von ihnen zur Begleitung mitzunehmen. Die Tecumseh II hatte an dem fremden Kai angelegt; Jude und die Mannschaft standen an Deck, blickten mit ernster Miene zum Himmel empor, wo der Hubschrauber inzwischen nicht größer als ein Punkt war.
»Ich muss mir einen Leihwagen besorgen«, sagte Lily zu Anne.
»Darum kümmert sich Liam bereits. Er kennt den Kommandanten der Küstenwache, weil sie die gleiche technologische Ausrüstung haben oder so; er wird dafür sorgen, dass dich jemand zur Autovermietung fährt. Soll ich mitkommen?«
Lily schüttelte den Kopf. »Es geht schon.« Sie wollte nur noch eines: so schnell wie möglich los. Jede Sekunde, die sie nicht bei Rose sein konnte, war verlorene Zeit.
Die Nanouks umringten sie, die Arme miteinander verschränkt, als wüssten sie, dass keine Zeit blieb, Lily zum Abschied einzeln zu umarmen oder zu küssen. Sie spürte den Schub des Gedränges, mit dem ihre Freundinnen und deren Töchter sie umgaben, als wären sie imstande, sie mit vereinten Kräften auf den Schultern nach Melbourne zu tragen.
»Wir lieben dich, Lil.«
»Wir sind bei euch.«
»Ruf an, Lily.«
»Wir schicken dir alles nach, was du brauchst.«
»Sag sofort Bescheid, wenn du mehr weißt.«
»Mache ich«, versprach sie, trockenen Auges und beherzt, gestärkt durch die Kraft und Liebe der Nanouks. Sie riss sich notgedrungen los und eilte den Kai hinab. Die Station der Küstenwache, weiß mit rotem Dach, untergebracht im Anbau des konischen Backstein-Leuchtturms, schmiegte sich in eine vom Wind verkrüppelte niedrige Kiefernschonung auf dem Gipfel einer kleinen Anhöhe.
Lily war fast außer Atem, als sie die Stufen erklomm. Sie hatte noch einen weiten Weg vor sich – wobei die Fahrt der einfachste Teil war. Sie entdeckte Liam, der mit dem Kommandanten in seiner weißen Uniform sprach. Ein jüngerer Angehöriger der Küstenwache bog gerade in die halbrunde Kiesauffahrt ein, offenbar war er dazu abkommandiert
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