Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
genommen.
Liam dachte nun daran, als er den Wagen parkte und gemeinsam mit Lily das Gebäude betrat. Er war im Laufe der Zeit häufig hier gewesen. In dieser Klinik hatte die erste Operation an seinem Arm stattgefunden, und hierher war Connors Leiche gebracht worden. Außerdem hatte er hier mehr als ein Mal Rose besucht. Lily und er waren sozusagen Stammgäste im Melbourne General, und deshalb gingen sie an der Anmeldung vorbei, schlugen direkt die Richtung zum dritten Stock der Kinder-Intensivstation ein.
Lily wirkte trotz aller Anspannung beherrscht. Sie drückte den Knopf für den Aufzug – zielstrebig, aber ruhig. Als er kam, stiegen Ärzte und Besucher zu, drängten Lily und Liam an die Rückwand. Sie war nicht größer als 1,52 Meter. Vielleicht eins dreiundfünfzig, mit ihren Laufschuhen. Sie trug Jeans, ein gelbes T-Shirt und ein dunkelblaues Sweatshirt der Cape Hawk Elementary School, das vorne einen Reißverschluss und hinten eine Kapuze hatte. Liam überragte sie um Haupteslänge. Er bemühte sich, nicht ständig auf ihr seidiges dunkles Haar hinabzustarren.
Als sich die Türen öffneten, bahnte sie sich einen Weg durch das Gedränge, Liam unmittelbar hinter ihr. Er registrierte, dass die Leute im Fahrstuhl sie mitleidig ansahen, als sie auf der Kinder-Intensivstation ausstiegen. Lily hatte keinen Blick dafür. Sie eilte schnurstracks zur Lautsprecherbox, die sich neben der geschlossenen Tür zur Intensivstation an der Wand befand, und drückte auf den Summer, um sich anzumelden.
»Ich möchte zu meiner Tochter, Rose Malone«, sagte sie.
»Moment, es kommt gleich jemand«, übertönte eine körperlose Stimme das Knistern.
Das Wartezimmer der Station besaß ein einziges Fenster, das auf das Kriegerdenkmal und den Teich hinausging. Mehrere grüne Stühle standen vor einem Fernsehgerät, wo gerade eine Talkshow lief. Was immer dort auch vor sich gehen mochte, schien erheiternd zu sein, denn das eingespielte Gelächter war ohrenbetäubend. Liam drehte das Gerät leiser.
Lily bezog vor der Tür der Intensivstation Stellung, wartete darauf, dass sie sich öffnete.
»Warum setzt du dich nicht?«, fragte Liam.
»Es geht schon«, sagte sie mit einem Blick über die Schulter. »Glaubst du, dass sie schon oben ist? Bestimmt hat man sie zuerst in die Notaufnahme gebracht. Vielleicht hätten wir dort zuerst nach ihr fragen sollen.«
»Das hätte dir die Schwester vermutlich gesagt, als du dich hier oben angemeldet hast.« Sie sah ihn immer noch an. Ihre Augen hatten eine Farbe, die zwischen Graugrün und Graublau changierte. Sie erinnerte ihn an den Blaureiher, der in seinem Teich lebte. Er beobachtete den Vogel jeden Morgen, von Sonnenaufgang an. Lilys Augen waren so blau, ernst und ruhig wie die des Blaureihers und genauso schön. Da sie außerdem besorgt wirkten, bemühte er sich, ein zuversichtliches Lächeln aufzusetzen.
»Du musst nicht warten«, sagte sie. »Ich weiß, du willst sicher sein, dass alles in Ordnung ist. Aber danach solltest du dem Kommandanten schleunigst den Wagen zurückbringen.«
»Mache ich. Aber jetzt warte ich erst einmal. Um zu sehen, wie es ihr geht.«
»Natürlich. Klar. Warum machen sie die Tür nicht auf?«
»Es ist gerade erst eine Minute vergangen.«
»Eine Minute ist zu lang!«
Es war das erste Anzeichen, dass sie nicht so ruhig war, wie sie aussah.
Liam ging zur Wand und drückte abermals auf den Summer.
»Ja?«, ertönte die Stimme.
»Wir möchten zu Rose Malone.«
»Ja, ich weiß. Es kommt gleich jemand …«
»Hören Sie.« Er sprach mit seiner Haiforscher-Stimme, die er benutzte, um den Leuten Beine zu machen, wenn es galt, in Ottawa und Washington an Verschlusssachen heranzukommen und sich Zugang zu den Zentralrechnern in Harvard oder Woods Hole zu verschaffen. »Nicht gleich, sondern sofort! Die Mutter des Mädchens, das heute seinen neunten Geburtstag feiert und mit dem Rettungshubschrauber eingeliefert wurde, steht draußen. Also ein bisschen Beeilung – wenn ich bitten darf.«
Als er sich zu Lily umdrehte, sah er, dass ihr Kinn bebte und ihre blauen Reiheraugen noch besorgter wirkten. Statt sie an sich zu ziehen, wie er es gerne getan hätte, stand er einfach reglos da.
»Sie kommen«, sagte er.
»Danke.«
Zwei Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Eine hochgewachsene junge Krankenschwester mit einem Klemmbrett stand vor ihnen. Sie lächelte sanft, völlig ungerührt von Liams Haistimme.
»Mrs. Malone?«
»Ich muss zu Rose.«
»Bitte
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