Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Gründen, die du vielleicht meinst«, fuhr sie fort. »Sondern weil ich es nicht mag, dir etwas schuldig zu sein. Überhaupt jemanden.«
»Du bist mir nichts schuldig. In keiner Weise.«
Lily blickte auf die Bucht hinaus, als sie die Küstenstraße entlangrasten. Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. Er hatte nie eine Gegenleistung von ihr erwartet – kein einziges Mal. Doch nach allem, was sie durchgemacht hatte, vor Roses Geburt und ihrer Ankunft auf Cape Hawk, war ihr die Fähigkeit abhanden gekommen, jemandem uneingeschränkt zu vertrauen. Früher hatte sie geglaubt, dass die Menschen im Grunde ihres Herzens gut seien, dass sie bereit waren, einander zu helfen. So war sie erzogen worden.
Doch damals, als sie auf Cape Hawk ankam, war dieser Glaube erschüttert, in tausend Scherben zersprungen. Es war Liams Pech, dass er zu den ersten Menschen gehörte, denen sie in diesem kleinen Fischerdorf am Ende der Welt, an der nördlichsten Küste von Nova Scotia, begegnete.
Sie schloss die Augen, ging in sich, dachte an die Zeit vor neun Jahren zurück. Hochschwanger und ungelenk war sie gewesen. Gestrandet in einer entlegenen Ortschaft, die ihr völlig fremd war, in einem Haus, das sie sich möglicherweise gar nicht leisten konnte, und mit einer uralten Schrottkiste, die nach der weiten Fahrt in den Norden dringend eine technische Grundüberholung und vier neue Reifen gebraucht hätte, wobei sie nicht einmal genug Geld für einen Ölwechsel gehabt hatte. Neben Liam im Auto des Kommandanten sitzend, wanderten ihre Hände unwillkürlich zu ihrem Bauch. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit Rose schwanger gewesen war, als wäre es erst gestern gewesen.
»Es gibt noch einen Grund.« Sie öffnete die Augen und sah ihn an.
»Einen Grund für was?«
»Für etwas, was ich seither bereue.« Sie hielt inne und überlegte, wie sie ihre Gedanken am besten in Worte kleiden sollte. »Seit unserer ersten Begegnung.«
»Und was wäre das, was du bereust?«
»Dass ich …« Sie wandte den Blick ab, sah zum Fenster hinaus – auf die endlose Weite des blauen Meeres, die dahingleitenden, kreisenden Seevögel und die gelegentlich geriffelten Wellen, die möglicherweise der Rücken eines Wals waren. »Dass ich dich nicht sehr gut behandle. Nicht gut genug jedenfalls.«
»Dein Verhalten ist ganz in Ordnung.«
»Nein, ist es nicht. Das weiß ich.«
Schweigend setzten sie die Fahrt fort. Sie war froh, dass er nicht versuchte, ihr zu widersprechen. Auf eines konnte sie sich bei Liam hundertprozentig verlassen: Er machte niemandem etwas vor. Er beschönigte nichts. Er würde sie niemals anlügen, nur um ihr ein besseres Gefühl zu vermitteln.
Sie musterte ihn erneut. Warum war er heute so wortkarg? Es reicht nicht aus, dass mein Verhalten in Ordnung ist, du hast etwas Besseres verdient. Du warst absolut wunderbar seit dem Tag, als du in mein Leben getreten bist, in unser Leben. Rose liebt dich. Sie hätte es ihm gerne gesagt. Aber solche Dinge konnte und würde sie nicht über die Lippen bringen.
Und so sagte sie stattdessen: »Danke, dass du mich fährst, Liam.«
Er antwortete nicht, aber sie sah, dass er lächelte.
Und dass er noch schneller fuhr.
Kapitel 11
D ie alte Backsteinklinik lag auf der Kuppe eines Hügels, der einen Ausblick über den Hafen von Melbourne bot. Daneben erhob sich das Kriegerdenkmal, das an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs erinnerte, ein einzelner Granitblock aus dem Steinbruch von Queensport. Liam und sein Bruder waren beide in diesem Krankenhaus geboren, genau wie die meisten ihrer Cousinen und Cousins. Liam erinnerte sich, wie sie hergefahren waren, um Connor abzuholen, als sie ihn drei Tage nach der Entbindung mit nach Hause nehmen durften.
Während sie darauf warteten, dass seine Mutter und das Baby reisefertig waren, hatte sein Vater ihn zu dem spiegelnden Teich unter dem hohen Monument mitgenommen und ihm erzählt, dass sein Urgroßvater im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte. Liam erinnerte sich noch heute daran, wie er die Hand seines Vaters gehalten und aufmerksam zugehört hatte. Sein Urgroßvater war im Kampf schwer verwundet worden und hatte viele Soldaten sterben sehen.
Bei dem Gedanken an seinen im Krieg verwundeten Urgroßvater war der dreijährige Liam in Tränen ausgebrochen – trotz des Glücks, dass er ein kleines Brüderchen hatte und seine Mutter wieder nach Hause kam.
»Manche Dinge sind es wert, dass man für sie kämpft«, hatte sein Vater gesagt und ihn auf den Arm
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