Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
ihr eigenes Herz auf der Erde verweilen wollte, stieg das Herz ihrer Mutter wie der Hubschrauber empor, flog mit Rose auf und davon. Sie spürte es, als hielte sie es in ihren Händen. Sie machte sich Sorgen wegen der Besorgnis ihrer Mutter. Bei dem Gedanken an ihre Krankheit fühlte sie sich nicht elend, weil es ihr schlechtging – sondern wegen ihrer Mutter.
Jessicas Mutter hatte eine gesunde Tochter; warum war ihrer Mutter dieses Glück verwehrt? Rose erinnerte sich daran, wie sie Jessica vor ein paar Tagen mit dem bösen Zauberer geneckt hatte, der in den Bergen hauste. Allein der Gedankte daran bewirkte, dass der Splitter in ihrem Herzen schmerzte. Ein Eissplitter, spitz wie eine Nadel.
Sie dachte an die Märchen, die ihre Mutter ihr vorgelesen hatte. Böse Zauberer verhängten einen Fluch oder einen Bann über die Menschen. Das war in ihrem Fall wahrscheinlich nicht geschehen. Vermutlich hatte sie etwas Schlimmes angestellt. Als Baby oder ganz kleines Mädchen. Ihre Mutter hatte nie ein Wort darüber verloren, aber es musste etwas gewesen sein, was ihren Vater dazu bewogen hatte, sich auf Nimmerwiedersehen von ihnen zu trennen. Seither hatte sie ein gebrochenes Herz und einen bösen Zauberer anstelle eines Vaters.
Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf umher. Sie atmete tief den Sauerstoff ein und blickte unverwandt in die Augen der fremden Krankenschwester. Wenn sie einen hypoxämischen Anfall hatte, war sie oft nicht sicher, was wirklich und was eingebildet war, ob sie träumte oder wachte.
Es gab keinen bösen Zauberer – ihre Mutter hatte sie gescholten, weil sie Jessica damit aufgezogen hatte. Trotzdem, warum konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass es in ihrem Leben sehr wohl einen gab? Anstelle eines liebevollen Vaters.
Sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen und an ihre Mutter zu denken. Sie wünschte sich brennend, wieder gesund zu werden, damit sie sich keine Sorgen mehr machen musste. Dann könnten sie gemeinsam Dinge unternehmen, die bei anderen völlig normal waren – rennen und spielen, oder Pläne für das nächste Weihnachtsfest schmieden, ohne sich zu fragen, ob sie wieder in die Klinik musste, weil eine weitere Operation unabdingbar war. Bei ihrem jetzigen Gesundheitszustand war alles in der Schwebe.
Wie der Hubschrauber, mit dem sie flog.
Das hier war die Wirklichkeit. Und kein Traum. Sie wurde nicht auf Teufelsflügeln zur Dämonenhöhle des Zauberers auf den Berg getragen. Sie wurde von niemandem entführt. Ihr Vater hatte keine Männer beauftragt, ihren Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Nein, ganz und gar nicht. Sie zwang sich, wach zu bleiben und ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen. Der gleichmäßige Rhythmus des Hubschraubermotors fühlte sich stark und beruhigend an.
Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit , sagte sie sich immer wieder. Ich bin auf dem Weg in die Klinik, damit ich gesund werde. Aber noch in der Luft.
Gerade erst hatte sie ihren Geburtstag gefeiert, Nanny gesehen, mit ihren Freundinnen gelacht, und in der nächsten Minute fand sie sich in einem Hubschrauber wieder, mit einer Wildfremden, die ihr Herz abhörte und zu lächeln versuchte, wurde nach Melbourne in die Klinik geflogen.
Hoch oben in der Luft. Sie befand sich in der Luft, doch ihr Herz war auf der Erde geblieben, bei ihrer Mutter. All das war wahr und real.
Lily fühlte sich wie betäubt, bewegte sich wie ein Automat. Anne und Marlena sammelten Roses Geschenke ein, packten die Geburtstagstorte in eine Schachtel – einschließlich der Kerzen, die noch nicht angezündet und ausgeblasen waren – und versprachen, alles zu Lily nach Hause zu bringen. Lily erinnerte sich verschwommen daran, gehört zu haben, dass Anne den Kuchen bis zu Roses Rückkehr in der Tiefkühltruhe des Gasthofs aufbewahren würde.
Sie wusste, dass sie nach Haus fahren und packen sollte. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass der Klinikaufenthalt gewöhnlich länger dauerte als angenommen und dass sie ihre Zahnbürste, das Buch, das sie gerade las, und Kleidung zum Wechseln brauchte. Aber ihr fehlte die Zeit für den langen Heimweg. Sie musste umgehend hier in Port Blaise einen Wagen mieten und in die Klinik fahren.
»Sollen wir mitkommen?«, fragte Marisa.
»Nein, das ist nicht nötig, du hast auf dem Boot schon genug für mich getan. Vielen Dank«, erwiderte Lily.
Sie reichten sich die Hände, blickten sich in die Augen. Lily fand, dass sie lebendiger wirkten – als hätte Marisa durch die Hilfe, die sie Rose
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