Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
konnte.
Kapitel 13
D as Ziel, Roses Zustand für die Reise nach Boston ausreichend zu stabilisieren, war alles, woran Lily denken konnte. Liam hatte zwei Zimmer im Holiday Inn besorgt, das am Hafen lag, unmittelbar am Fuße des Hügels, auf der sich die Klinik befand. Sie bat ihn abermals, nach Hause zurückzukehren, doch er beharrte darauf, zu bleiben, bis Rose die Intensivstation verlassen durfte. Er hatte sich in der Zwischenzeit mit seinem Freund darauf geeinigt, dass er den Wagen auf unbestimmte Zeit behalten konnte. Und seinen Forschungsprojekten konnte er am Laptop nachgehen.
Lily fügte sich mit einem Achselzucken. Sie hatte keine Ahnung, warum er darauf bestand, zu bleiben. Sie bekam ihn kaum zu Gesicht, und da er kein Angehöriger war, durfte er die Station nicht betreten, um Rose zu besuchen. Sie wusste, sie hätte für seinen Beistand dankbar sein müssen, aber sie war dermaßen erschöpft und ausgelaugt, wenn sie abends ins Hotel kam, dass sie kaum noch die Kraft aufbrachte, beim Zimmerservice eine Suppe zu bestellen und sie vor dem Fernseher zu essen.
In den ersten vier Tagen fand sie ihn morgens in der Hotelhalle vor, darauf wartend, sie hinauf zum Melbourne General zu fahren. Draußen war es kühl und diesig, Morgennebel hing über dem Wasser und der Stadt. Sie schwiegen während der Fahrt, die gerade fünf Minuten dauerte, wobei Lily auf den mit Silber überzogenen Hafen starrte und an die Fragen dachte, die sie Roses Ärzteteam stellen wollte.
Am fünften Morgen hatte sich der Nebel verzogen, und die Sonne schien hell und klar. Als Lily die Hotelhalle betrat, stand Liam auf, um sie zu begrüßen. Sie hob die Hand.
»Hör zu, das ist doch albern. Das Wetter ist herrlich. Kein Nebel mehr. Ich gehe zu Fuß zur Klinik, und du solltest nach Cape Hawk zurückkehren.«
»Ein idealer Morgen für einen Spaziergang«, pflichtete er ihr bei.
»Ich bin froh, dass du es genauso siehst.«
»Komm. Ich begleite dich. Gehen wir beide zu Fuß.«
»Nein! Liam, du musst arbeiten, zu Hause. Der Kommandant braucht sein Auto zurück. Rose macht Fortschritte.«
»Sie liegt noch auf der Intensivstation.«
»Ich denke, dass sie heute auf die reguläre Kinderstation verlegt wird. Es geht ihr schon merklich besser – die Flüssigkeit, die sich rund um ihr Herz gesammelt hatte, ist beinahe weg, und die Lungenflügel sind fast wieder auf normale Größe geschrumpft.«
»Das Lasix wirkt offenbar.«
»Ja.« Lily war überrascht, dass er den Namen des harntreibenden Medikaments kannte oder überhaupt wusste, dass Rose eines einnehmen musste. Sie sprach selten mit jemandem über die Einzelheiten der Behandlung, es sei denn, er war Arzt.
»Heute wird sie also möglicherweise verlegt?«, hakte er nach.
»Ja.«
»Gut.« Er nickte lächelnd, und Lily glaubte Erleichterung in seinen Augen zu entdecken – er konnte die selbst auferlegte Bürde, was immer es auch war, über Bord werfen und zu den Haien und Walen von Cape Hawk zurückkehren. Sie lächelten sich an, gelöst und entspannt im Tohuwabohu der Hotelhalle, in der um diese Zeit Hochbetrieb herrschte. Er berührte ihren Arm, als sie in den Sonnenschein hinaustraten.
»Also dann«, sagte sie. »Danke – für alles. Würdest du Anne bitte meinen Dank ausrichten, dass sie mir die Reisetasche mit meinen Sachen geschickt hat? Es war eine brillante Idee, sie dem Fahrer des Wäschedienstes mitzugeben – er hat sie mit der Tischwäsche für das Hotel abgeliefert.«
»Vielleicht solltest du sie selbst anrufen.«
Wie bitte?, dachte Lily. War es zu viel verlangt, seiner Schwägerin eine Nachricht zu übermitteln? »Kein Problem«, erwiderte sie. »Ich dachte nur, dass du sie vermutlich eher als ich im Gasthof sehen wirst.«
»Bestimmt, gleich nach meiner Rückkehr. Aber nicht heute.«
»Aber du fährst doch nach Hause.«
Liam schüttelte den Kopf. »Nein. Ich fahre, wenn mit Rose alles in Ordnung ist.«
»Liam!«
»Versuch gar nicht erst, mit mir zu diskutieren, Lily. Ob es dir passt oder nicht, ich bleibe. Und jetzt komm – wenn du nicht fahren willst, begleite ich dich zu Fuß zur Klinik. Wir müssen los, wenn du die Ärzte bei der Morgenvisite erwischen willst.«
Lily öffnete den Mund, doch dann besann sie sich eines Besseren und stapfte den steilen Hügel zum Melbourne General empor. Liam ging schweigend neben ihr her. Selbst mitten in der Stadt war unverkennbar, dass sie sich in Nova Scotia befanden. Kiefernduft erfüllte die Luft, und der Lärm des
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