Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
ehrenamtlicher Tätigkeit für notleidende Kinder gesagt, dass er der großherzigste Mensch sei, den man sich nur vorstellen könne.
Als sie nun das traurige Gesicht des Löwen im König von Narnia betrachtete, holte Jessica tief Luft. Sie wünschte, Aslan könnte aus dem Buch heraustreten und ihr einen Rat geben. Oder ihr Vater könnte vom Himmel herunterkommen und ihr sagen, was sie tun sollte. Wenn Ted wirklich der großherzigste Mensch war, den man sich nur vorstellen konnte, war sich Jessica nicht sicher, ob sie überhaupt versuchen sollte, Spenden für Rose zu sammeln. Sie wollte um keinen Preis der Welt wie Ted sein.
Das Problem war, dass ihr Vater nicht mehr mit ihr reden konnte. Nicht seit dem Tag, als Ted bei ihnen eingezogen war. Sie war von der Schule nach Hause gekommen und zum Kleiderschrank gegangen – nicht, weil Teds Gegenwart sie störte oder so. Vielleicht ein bisschen – aber hauptsächlich wollte sie mit ihrem Vater Zwiesprache halten, wie immer. Das war im Frühjahr gewesen, und sie hatte beim Baseballspiel einen Flugball gefangen.
Sie hatte den Baseball dabei. Ihre Mutter und Ted waren in der Küche. Sie hätte den beiden ihre Trophäe zeigen können, aber sie lief an ihnen vorbei, die Treppe hinauf, zum Schrank ihres Vaters. Sie öffnete die Tür und –
Alle seine Anzüge waren verschwunden.
Stattdessen hingen Teds Sachen darin. Anzüge, Jacketts, Hosen, Mäntel und sein Bademantel. Noch heute spürte Jessica, wie sich ihre Brust verengte, wenn sie an diesen Augenblick zurückdachte. Sie berührte ihr Herz und setzte sich aufs Bett. Sie blickte in Aslans Gesicht, schluchzte leise vor sich hin. Maria, Jesus, Gott … der Anblick von Rose, die blau angelaufen war und mit dem Hubschrauber in die Klinik gebracht wurde, hatte alle Erinnerungen wieder aufgewühlt. An die Menschen, die sie liebte, die sie verließen. Ihr Vater, Rose … Ihr Vater war nie wirklich fortgegangen, bis zu dem Tag, als Ted und ihre Mutter seine Anzüge weggeworfen hatten.
»Sag mir, was ich tun soll«, flüsterte sie nun und kniete sich hin.
Draußen waren die Eulen auf der Jagd. Sie hatte ihre Rufe seit der Schneeschmelze jeden Abend vernommen. Manchmal hatte sie besonders aufmerksam gelauscht – vielleicht würde es ihr ja gelingen, sie zu verstehen. Sie starrte das Bild in ihrem Lieblingsbuch an, spitzte die Ohren, um die Eulen zu hören; es sah so aus, als würde sie beten, aber in Wirklichkeit sprach sie mit ihrem Vater.
Wenn es einen Tag gab, an dem sie seine Rückkehr ersehnte, dann an ihrem wirklichen Geburtstag.
Doch Ted hatte ihn verscheucht. Und Teds wegen hatte sie nun einen falschen Namen, einen falschen Geburtstag und eine falsche Lebensgeschichte. Nur ihr Vater wusste, wer sie wirklich war. Er war der Einzige, der sich dafür einsetzen konnte, dass ihre große Bitte in Erfüllung ging. Ihre Mutter hätte das früher auch geschafft, aber die Zeiten waren vorbei. Ihre Mutter war nur noch ein Gespenst – ein knochiges, verängstigtes, gebrandmarktes Skelett, eine leere Hülle, die Ted zurückgelassen hatte. Ihre Mutter und sie glichen einem Haufen Knochen, ausgespien von dem Ungeheuer, dem sie nichtsahnend Einlass in ihr Leben gewährt hatten.
Ted schien oft in Weißglut zu geraten. Und dann hatte er Tally, ihren kleinen Hund, getötet. Sie hatte befürchtet, er würde ihre Mutter und sie auch umbringen. Er war alles andere als großherzig. Ihr Vater hatte sich nicht oft getäuscht, aber in diesem Punkt schon. Dennoch, Jessica hatte heute Abend eine wichtige Bitte an ihn.
»Daddy, sei nicht böse, aber du hast dich geirrt«, sagte sie. »Ted war nicht großherzig. Er hat sich in unsere Familie eingeschlichen, um uns zu verletzen, das war alles, was er wollte. Er hat uns alles genommen, was wir besaßen. Beinahe jedenfalls.«
Eine Eule schrie im Wald, und Jessica lächelte – ihr Vater antwortete ihr.
»Du musst mir helfen, Rose zu helfen – bitte, Dad. Ich will nicht, dass sie jetzt schon in den Himmel kommt. Hilf mir, Dad! Ich möchte, dass sie bei mir bleibt, am Leben bleibt.« Sie stellte sich ihren Vater im Himmel vor, in Gesellschaft der heiligen Agatha, der heiligen Agnes und der Jungfrau von Orléans.
Wieder schrie die Eule, ein Ast fiel krachend zu Boden, und plötzlich hatte Jessica eine Idee, es war wie ein Fingerzeig des Himmels. Gleich nach Sonnenaufgang würde sie in den Wald gehen, wo es einen verborgenen Schatz gab, mit dem sie Geld für Rose verdienen
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