Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Christophorus-Medaille, eine herausgefallene Rolaid-Tablette, die zerrissenen Folienschnipsel einer Zigarettenpackung, die Mass Card seiner verstorbenen Mutter – Erinnerung an die Messe, die für sie gelesen wurde.
Nach geraumer Zeit verblasste ein Teil des ursprünglichen Zaubers. Sie warf einen Blick in die linke Tasche seines Glencheck-Anzugs und wusste, dass sie seine Geldklammer, Streichhölzer und den Terminkalender darin finden würde. Oder sie griff in die rechte Gesäßtasche seiner grünen Golfhose, wo sich ein grasbefleckter Abschlaghalter und ein gelber Bleistiftstummel zum Notieren der Punkte befand. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte und in der Brusttasche seines sommerlich leichten blauen Blazers kramte, stieß sie auf ihr Kindergartenbild und einen Taschenrosenkranz.
Selbst ohne Aufregung und Vorfreude waren die Stunden, die sie zwischen den Anzügen verbrachte, die glücklichsten der damaligen Zeit. Sie nahm den Geruch ihres Vaters wahr und wusste, dass er hier gewesen war, auf dieser Erde. Er war kein Engel oder Geist, der vom Himmel auf sie herabblickte – sondern ein Mensch, der gehen und reden konnte, der ihr Kindergartenfoto aufbewahrt, elegante Anzüge getragen und manchmal vergessen hatte, seine Taschen auszuleeren. Manchmal stand sie in dem Gewühl von Stoffen, erzählte ihm, wie ihr Tag verlaufen war, und hörte ihn antworten.
Einmal öffnete ihre Mutter die Tür des Kleiderschranks, als sie sich gerade darin versteckt hatte. Jessica hielt den Atem an, um nicht entdeckt zu werden. Nicht, weil sie Angst hatte, ihre Mutter könnte wütend werden – sondern weil sie befürchtete, sie könnte traurig werden, wenn sie ihre Tochter zwischen den Anzügen ihres Vaters fand. Doch die Sorge hatte sich als unbegründet erwiesen: Ihre Mutter hatte nur ein paar Minuten vor dem Schrank gestanden, bevor sie die Tür wieder schloss und ging.
Vielleicht hatte ihre Mutter das Gleiche versucht wie sie: die Uhr zurückzudrehen und sich daran zu erinnern, wie glücklich sie früher gewesen waren, zu seinen Lebzeiten, als er die schönen Anzüge getragen hatte. Vielleicht ermöglichte ihr der Anblick seiner Kleider, ihm nahe zu sein, wieder seine Stimme zu hören, genau wie Jessica.
Und dann war Ted aufgetaucht.
Ihr Vater kannte ihn vom Golfplatz. Ted war Wertpapiermakler und hatte einen Teil des Familieneinkommens geschickt angelegt. Ihre Eltern hatten sich oft über Ted unterhalten – »Ohne ihn würden wir das alles nicht schaffen«, hatte ihr Vater immer wieder beteuert, wenn es um die Expansion seines Geschäfts ging. »Ihn hat uns der Himmel geschickt«, hatte ihre Mutter gesagt. Teds Fähigkeiten schienen an ein Wunder zu grenzen. Dank seiner Hilfe hatte sich ihr Vater ein neues Büro für seine Internet-Suchfirma im Zentrum von Boston leisten können – statt weit ab vom Schuss, in Dorchester. Und das Geld hatte dazu beigetragen, ein neues Computersystem anzuschaffen, weitere Mitarbeiter einzustellen und für alle eine Krankenversicherung abzuschließen.
Jessica hatte sich schon Gedanken über Ted gemacht, bevor sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Wie funktionierten Wertpapiere? Wieso vertraute eine Familie einem nahezu Unbekannten ihr Geld an, damit er es vermehrte? Dass ihm das tatsächlich gelungen war, schien unglaublich, ein Wunder, ein Segen. Konnte man wirklich sein täglich Brot damit verdienen, die Ersparnisse anderer zu verwalten und ihnen dabei zu helfen, ihr Einkommen zu steigern? Einmal hatte sie ihrem Vater diese Frage gestellt, und er hatte geantwortet: »Er ist ein heller Kopf. Er hat die besten Schulen besucht, um sein Metier zu erlernen, und wählt nur solche Wertpapiere aus, die er für gewinnbringend hält.«
»Aber er ist doch nett, oder?«, hatte sie gefragt, unfähig, Teds Rolle im Leben ihrer Familie genau zu ergründen.
Ihr Vater hatte gelacht. »Ja, er ist ein Genie. Und bei allen beliebt. Er hat viele Freunde und ist Vizepräsident des Rotary-Clubs in seiner Heimatstadt.«
Jessica wusste nicht, was ein Rotary-Club war, aber es klang aufregend. Die Worte ihres Vaters leuchteten ihr ein. Ted musste ein Genie sein. Geld war schwer zu verdienen – ihre Eltern machten sich fortwährend Sorgen, wie sie die Hypothek, die Autorechnungen, den Aufbau der Firma und das College bezahlen sollten, das sie später einmal besuchen würde. Wenn sie Ted ihre Ersparnisse anvertrauten, musste sie ihm ebenfalls vertrauen. Ihr Vater hatte einmal wegen Teds
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