Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Wasserhose. Schnell wie der Blitz, mit der Geschwindigkeit eines Tornados und noch größerer Stärke. Nur so lange den Boden berührend, um Energie zu tanken und sich dann wie ein Wirbelwind zu Rose zu begeben.
»Sie dürfen gerne in der Halle auf Ihre Bekannte warten«, erklärte der Wachmann unerbittlich. »Aber ich kann Sie nicht ohne Sondererlaubnis auf die Intensivstation lassen.«
»Wie bekomme ich die?«
»Von einem Arzt. Außerdem brauchen Sie die Genehmigung von einem Elternteil des Patienten. Am besten warten Sie hier.«
»In Ordnung. Danke«, sagte Liam.
Doch er wartete nicht, sondern trat wieder ins Freie hinaus. Er überquerte die Straße, schlenderte zu dem spiegelnden Teich und blickte zum Kriegerdenkmal empor. Er berührte es mit seiner gesunden Hand und dachte, wie sonderbar es doch war, dass ein Monolith so viele Menschen überlebt hatte, die er liebte: seine Eltern, Connor. Sein Blick schweifte über den Teich, zum Tümpel am anderen Ende der Anlage hinüber. Er versuchte, die Schatten zu durchdringen, hielt Ausschau nach dem Reiher.
Falls sie da war, hatte sie sich so gut getarnt, dass er sie nicht ausmachen konnte.
Lily hatte nicht lange genug innehalten wollen, um genauer hinzuschauen. Das hatten Naturphänomene so an sich. Sie waren vollauf damit beschäftigt, ihren Zweck zu erfüllen. Wirbelstürme, Tornados oder Wasserhosen, Hitzewellen, Lily Malone. Nichts konnte sie auch nur zwei Sekunden von Rose fernhalten – die Poesie eines Blaureihers eingeschlossen, der sich in diesem Stadtpark befand und die gleiche Augenfarbe hatte wie sie.
Liam ging langsam an der Westseite des langen Teiches, am spiegelnden Wasser entlang. Er achtete darauf, im Schatten zu bleiben – nicht, weil die Sonne vom Himmel brannte, sondern weil er ungesehen bleiben wollte. Sein Bruder, Jude und er hatten sich früher damit gebrüstet, sich unbemerkt an jedes Tier in freier Wildbahn anschleichen zu können. Sie waren in der Lage, lautlos in eine Herde von Finnwalen zu schwimmen, ohne sie zu stören. Connor war einmal so nahe an einen Beluga herangekommen, dass er dessen Rückenwirbel berühren konnte. Und am Tag der Wintersonnenwende war es ihnen gelungen, ein Schneeeulenpaar aufzuspüren und sich ihnen kriechend bis auf drei Meter zu nähern.
Er hatte sein Handy auf lautlos gestellt und überprüfte es nun zur Sicherheit: Er hoffte, dass Lily ihn wenigstens anrufen würde, wenn eine Änderung von Roses Befinden eintrat.
Der Gedanke, Lily mit einem Naturphänomen zu vergleichen, war ihm nicht neu. Er hatte ihre unausgewogene, ungeklärte, ungereimte Beziehung von Anfang an geprägt. Liam dachte an die Zeit vor neun Jahren zurück, als er ihr zum ersten Mal begegnet war.
Sie war in einem verrosteten alten Volvo mit durchlöchertem Boden in die Stadt gekommen, die Motorhaube wurde nur noch mit Bindedraht unten gehalten. Ihre Haare waren raspelkurz geschnitten, und sie trug damals eine Brille, die sie nicht wirklich brauchte. Da sich Cape Hawk mehr oder weniger in der Hand seiner Familie befand, war sie zuerst Camille begegnet, seiner Tante, der Grande Dame des Clans und der Inhaberin von Neill Real Estate. Sie war auf der Suche nach einer Bleibe. Das Ganze war Camille so merkwürdig vorgekommen – eine bildhübsche junge Frau, hochschwanger, offensichtlich Amerikanerin, die ein Haus auf Cape Hawk mieten wollte –, dass sie das Thema beim gemeinsamen Abendessen der Familie anschnitt, das jeden Freitag stattfand. Die junge Frau war sichtlich darum bemüht gewesen, ihre Schwangerschaft unter lose fallender Kleidung zu verbergen.
»Billig soll es sein«, berichtete Camille. »Das sei die wichtigste Voraussetzung, meinte sie.«
»Wo steckt ihr Mann?«, hatte Jude, Camilles Sohn, gefragt.
»Er ist Fischer. Oft wochenlang auf See.«
»Mit was für einem Boot?«
»Die Frage habe ich ihr auch gestellt. Die Antwort war unbestimmt, gelinde ausgedrückt. Ob er Drogenschmuggler ist?«
»Vermutlich ist er der Drahtzieher des gesamten maritimen Heroinhandels«, ließ sich Liam vernehmen. Er hatte nicht am Familienessen teilnehmen wollen, wie immer, aber heute Abend hatte seine Tante darauf bestanden. Er saß neben Anne, die ihm einen Rippenstoß versetzte. Doch sie traf die harte Prothese, so dass die ganze Tischgesellschaft das Krachen hörte.
»Unterlass deine vorlauten Bemerkungen, Liam.« Camille bedachte ihre Schwiegertochter mit einem erbosten Blick. »Das ist übrigens der Grund, warum ich dich heute
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