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Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)

Titel: Wolken über dem Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Schiffsverkehrs – Glocken, Schiffshörner und Motoren – drang vom Hafen herüber. Seemöwen kreischten hoch über ihren Köpfen. Sie dachte an die ersten Tage nach ihrer Ankunft vor neun Jahren in Nova Scotia zurück. Auch damals war Liam bei ihr gewesen.
    »Warum tust du das alles?«, fragte sie.
    »Du weißt, warum.«
    »Es macht keinen Sinn, nach so langer Zeit.«
    »Für mich schon.«
    »Ich weiß, was du damals gesagt hast. Ich werde es nie vergessen und dir immer dankbar sein. Aber das ist Ewigkeiten her.«
    »Glaubst du, dass Versprechen im Lauf der Zeit ihre Gültigkeit verlieren?«
    Lily hatte darauf keine Antwort. Zumindest keine, die sie laut aussprechen konnte. Sie war tatsächlich der Meinung, dass Versprechen – wie viele andere Dinge – im Laufe der Zeit ihre Gültigkeit verloren. Die Welt war voller Beweise, die diese Ansicht bestätigten: zerbrochene Ehen, gebrochene Schwüre, Sinneswandel, auch Gefühle änderten sich. Es war einfacher, Versprechen zu brechen, als sie zu halten, daran gab es nichts zu rütteln.
    Der Hügel wurde so steil, dass ihre Waden zu schmerzen begannen. Leute kamen ihnen auf dem Weg zur Arbeit entgegen. Auf dem Gipfel der Anhöhe befand sich der Stadtpark, den sie auf dem Fußweg zwischen den beiden Steintoren betraten. Der aus dem Norden kommende Verkehr nach Melbourne verlief durch den Park. Als sie weitergingen, kamen sie an einer langen Autoschlange vorbei. Schon vor Jahren hatte Lily es sich abgewöhnt, ihre Umgebung mit Blicken zu durchforsten, Menschen und Autokennzeichen argwöhnisch zu mustern, während sie ihr eigenes Gesicht zu verbergen trachtete. Bisweilen wünschte sie sich sogar, erkannt zu werden – in manchen schlaflosen Nächten sehnte sie sich geradezu schmerzlich nach einer Konfrontation, nach einem Ende des Versteckspiels.
    Sie gingen raschen Schrittes einen schmalen Weg entlang, der durch den Rosengarten des Parks führte. Der Boden duftete nach Blumen und frisch umgegrabener Erde. Lily dachte an ihren eigenen Garten, der von den Rosen ihrer Kindheit inspiriert war. Rose fand es herrlich, zu graben, zu pflanzen und zu beschneiden; manchmal, wenn es ihr schlechtging und sie im Krankenhaus lag, tröstete sich Lily mit den Gedanken an Rosenbüsche, die im Winter Knospenruhe hielten, um im Sommer aufzublühen. Auch Rose würde wieder aufblühen.
    Plötzlich bemerkte sie, dass Liam nicht mehr neben ihr ging. Sie hielt inne, drehte sich um und sah, dass er reglos dastand. Ihr erster Impuls war, ungeduldig zu werden – ihr fehlte die Zeit, um stehen zu bleiben und an den Rosen zu riechen. Die Morgenvisite der Ärzte hatte bereits begonnen, und sie musste sie erwischen.
    »Was machst du da?« Sie kehrte um.
    Liam antwortete nicht. Er stand da und blickte über die Rosen hinweg, zwischen den Kiefern hindurch zu einem Tümpel im Wald. Lily bemühte sich, seinem Blick zu folgen. Der Tümpel war von hohem grünen Riedgras gesäumt. Das Wasser war dunkel, wirkte grünlich braun im Schatten der hohen Kiefern und Eichen. Am anderen Ende des Tümpels befand sich das Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs mit dem spiegelnden Teich, der offenbar von diesem naturbelassenen, urwüchsigen Gewässer gespeist wurde.
    »Liam, was gibt es da zu sehen?«
    »Schau mal.« Er deutete in die Richtung. »Du musst genau hinsehen. Sie verbirgt sich in den Schatten.«
    Es war ein Blaureiher, der am Rande des Tümpels stand. Er war groß und völlig reglos – man hätte ihn für eine Statue halten können. Die Morgensonne schien durch die Bäume und das Gras, die Silhouette der langen Beine, des langen gebogenen Halses und des scharfen Schnabels zeichnete sich deutlich ab. Die Haltung des Reihers wirkte vollkommen, drückte Wachsamkeit aus – als wartete er auf etwas, das wichtiger war als alles andere auf der Welt.
    »Sie hat sich gut getarnt«, sagte Liam. »Damit niemand sie entdeckt, bevor sie dazu bereit ist.«
    »Warum glaubst du, dass es ein Weibchen ist?«
    »Keine Ahnung.« Liam blickte ihr in die Augen.
    »Es könnte auch ein Männchen sein.«
    »Schon möglich.«
    »Liam, zu Hause gibt es Reiher in Hülle und Fülle. Was ist an diesem so besonders?«
    Er sah sie an. Er hatte tiefblaue Augen, umgeben von einem Kranz feiner Fältchen, die ihm ein müdes, besorgtes Aussehen verliehen. Doch die Augen selbst leuchteten wie die eines kleinen Jungen, gerade in diesem Moment im Morgenlicht. Lily blinzelte, runzelte die Stirn.
    »Sie hält sich in einem Park

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