Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Abend dabeihaben wollte.«
»Wegen meiner Fachkenntnisse, was Drogenschmuggler angeht?«
»Nein. Weil sie eine preiswerte Unterkunft sucht und ich an dieses Blockhaus, am hinteren Ende deines Grundstücks, dachte.«
Liams Magen verkrampfte sich. Das Gebäude war anfangs kaum mehr als eine Hütte gewesen – ein Fort für Connor und ihn, als sie Kinder waren. Zwei Räume, die seine Eltern im Laufe der Jahre in ein recht annehmbares Gästehaus verwandelt hatten.
»Du könntest es ihr doch vermieten. Natürlich musst du dir erst einmal selbst ein Bild von ihr machen. Solltest du ein schlechtes Gefühl bei der Sache haben oder sollte dir an ihr und ihrem Mann irgendetwas verdächtig erscheinen – nun, dann wird sich eine andere Lösung finden. Wisst ihr, was ich glaube?«
»Nein«, erwiderte Anne. »Sag schon, Camille.«
»Ich glaube, dass es überhaupt keinen Ehemann gibt. Dass sie eine ledige Mutter ist.«
»So eine lasterhafte Person«, schmunzelte Anne.
Nun war es an Liam, ihr einen Rippenstoß zu versetzen. Aber Camille nahm ihre Bemerkung wörtlich und nickte mit ernster Miene. »Genau. Ich könnte mir vorstellen, dass sie nur nach Kanada gekommen ist, um sich unser Gesundheitssystem zunutze zu machen. In den Vereinigten Staaten würde sie in ihrer Situation durch das soziale Netz fallen. Mir missfällt der Gedanke, einen Betrug oder etwas dieser Art zu unterstützen …«
»Immer noch besser, als einen Drogenhändler zum Ehemann zu haben«, warf Liam ein.
»Wie wahr, mein Lieber. Also – ich überlasse euch die Entscheidung. Sie übernachtet heute im Gasthof. Zimmer 220. Nimmst du sie mit, damit sie sich das Blockhaus anschauen kann?«
»Vergiss deinen Revolver nicht«, riet Jude. »Nur für den Fall.«
»Unterlass deine vorlauten Bemerkungen«, ermahnte ihn seine Mutter, dann winkte sie die Bedienung herbei, um die Dessertteller abräumen zu lassen.
Als Liam Anstalten machte, Zimmer 220 aufzusuchen, hielt Anne ihn zurück.
»Es war schön, dich heute Abend beim Essen dabeizuhaben. Jude meinte gerade, du machst dich viel zu rar.«
»Es fällt mir schwer, einem Freitagabend mit Camille zu widerstehen«, grinste Liam.
»Ich weiß. Dieses Familienessen ist vermutlich der Höhepunkt der Woche. Ich glaube, ihr Problem rührt daher, dass sie seit ihrer Hochzeit mit Frederic den Namen Camille Neill trägt. Das ist harter Tobak. Klingt wie ein albernes Wortspiel einer dieser Comedy-Serien.« Kichernd blickten sie um sich, um sicherzugehen, dass Camilles Spione – ihre bevorzugten Bedienungen und Zimmermädchen – nicht lauschten.
»Im Ernst«, fuhr Anne fort. »Wo warst du? Hast du dich vielleicht bis über beide Ohren in diese Haiforscherin verliebt, die letzten Sommer hier auftauchte?«
Liam schüttelte den Kopf. »Nein. Das war nur eine Kollegin aus Halifax.«
»Eine hübsche. Und du hast ihr gefallen, Liam. Das ist uns beiden aufgefallen, Jude und mir.«
»Hmm.«
»Nun, wenigstens knurrst du mich nicht an wie sonst, wenn ich versuche, dich über dein Liebesleben auszuquetschen. Ich wünschte, du hättest eines. Du bist schließlich mein Lieblingsschwager.«
»Und du meine Lieblingsschwägerin. So, jetzt muss ich aber los, die Pflicht ruft.«
»Ach ja, der geheimnisumwitterten, unverheirateten Drogenhändlerin auf den Zahn fühlen.«
Liam hatte die Eingangshalle durchquert, ohne zu wissen, was ihn erwartete, nur um die Sache hinter sich zu bringen. Das Hotel war groß und weitläufig, mit zwei langen Flügeln. Zimmer 220 befand sich am hintersten Ende des einen Flügels im ersten Stock, an der Seite des Hotels, die auf den Parkplatz für Angestellte hinausging, ohne Blick auf die Bucht von Cape Hawk.
Er klopfte – keine Reaktion. Er versuchte es abermals. Er warf einen Blick auf seine Uhr – halb neun. Ob sie schon schlief? Auf Cape Hawk konnte man nach dem Abendessen nicht viel unternehmen. Vielleicht machte sie einen Spaziergang. Er beugte sich näher zur Tür. Von innen drangen leise Geräusche an sein Ohr.
Er lauschte mit angehaltenem Atem. Zuerst dachte er, es sei der Fernseher. Er hörte eine hohe helle Stimme. Sie schien unnatürlich für einen Menschen – sie klang eher wie das Wehklagen eines Seevogels. Oder wie Walgesang, übertragen von Unterwassermikrophonen. Doch sie griff ihm ans Herz, zwang ihn, wahrzuhaben, dass die Quelle durch und durch menschlich war: eine weinende Frau.
Liam hatte schon einmal einen Menschen gehört, der so verzweifelt weinte: seine Mutter,
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