Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
an dem Tag, als Connor ums Leben kam. Er hob die Hand, um abermals zu klopfen, doch dann hielt er inne. Der Kummer der Unbekannten war zu groß und zu persönlich, um sie darin zu stören. Und so ging er unverrichteter Dinge davon, entschlossen, es am nächsten Morgen noch einmal zu versuchen.
Doch das erübrigte sich.
Camille hatte eine Nachricht in seinem Büro hinterlassen: Vergiss die Vermietung. Sie hat anderswo eine Unterkunft gefunden.
Liam war erleichtert. Ungeachtet dessen, was in dem Zimmer vor sich gegangen war, es überstieg seine Kräfte. Er hatte die ganze Nacht wach gelegen und überlegt, was mit ihr los sein mochte – und den Entschluss gefasst, sich herauszuhalten. Nicht, dass es ihm schwergefallen wäre – sich herauszuhalten war eine seiner leichtesten Übungen. Das konnte die von Anne erwähnte Haiforscherin aus Halifax bestätigen. Julie Grant. Sie hatte den Kontakt aufrechterhalten und ihm geschrieben – zumindest bis zu ihrem letzten Brief, in dem es hieß: »Ruf mich an, wenn du feststellen solltest, dass es besser ist, Zeit mit Menschen als mit Haien zu verbringen. Ich dachte, wir hätten eine Chance, doch das war ein Irrtum, wie ich nun weiß. Lebe wohl.«
Liam hatte gelernt, dass es seinem Herzen zuträglicher war, auf Distanz zu gehen – sogar oder vor allem im Umgang mit Menschen, die ihm nahestanden. Nach Connors Tod war seine Mutter verschwunden. Nicht körperlich, sondern geistig. Sie war zunehmend stiller geworden, einsamer, distanzierter, bis es nur noch sie und die Flasche gab. Wie sehr sich Liam auch bemühte, sie wieder ins Leben zurückzuholen, sie daran zu erinnern, dass sie noch einen Sohn hatte – er stieß auf taube Ohren. Wenn Operationen an seinem Arm anstanden, hatte ihn sein Vater ins Krankenhaus gebracht. Seine Mutter konnte es nicht ertragen, auch nur einen Fuß über die Schwelle der Klinik zu setzen, in der Connor für tot erklärt worden war.
Als Liam nun an der Längsseite des Teiches entlangging, blickte er über die Schulter auf ebendiese Klinik. Lily und Rose befanden sich darin. Lilys Auffassung von der Mutterrolle stand in völligem Gegensatz zu der seiner Mutter, rein äußerlich zumindest. In ihrem tiefsten Inneren empfanden die beiden vermutlich genau das Gleiche. Die Liebe zu ihren leidenden Kindern prägte jeden Aspekt ihres Lebens.
Der Reiher befand sich noch an der gleichen Stelle wie vorhin. Auf leisen Sohlen, verborgen im Schatten, näherte er sich ihr Schritt für Schritt – er war immer noch überzeugt davon, dass es sich um ein Weibchen handelte. Sie regte sich nicht. Ihre Haltung war hoheitsvoll, der blaue Hals gereckt, der gelbe Schnabel dem Boden zugekehrt. Der Weiher war spiegelglatt, doch sie nahm jede noch so kleine Bewegung darin wahr, tauchte den Kopf blitzschnell ins Wasser, stieß zu und kam mit einem aufgespießten Silberfisch wieder hoch.
Liam beobachtete, wie sie ihre Beute verspeiste. Als sie fertig war, nahm sie ihre Haltung wieder ein. Es fesselte und erstaunte ihn, das Walten der Natur in der Praxis zu beobachten – er hatte ein ähnliches Gefühl, wenn er ein Naturphänomen wie Lily vor sich hatte.
Wahrscheinlich würde der Wachmann irgendwann eine Pause machen und abgesehen davon, dauerte es ohnehin nicht mehr lange, bis die offizielle Besuchszeit begann.
Deshalb machte er kehrt und ging zur Klinik zurück, getreu seinem Versprechen, das Lily weder verlangt hatte noch erfüllt sehen wollte; wie auch immer, er hatte einfach das Gefühl, dass ihm keine andere Wahl blieb.
Rose hatte in ihrem Leben schon vielen Herausforderungen getrotzt, und der heutige Tag stellte keine Ausnahme dar. Als ihre Mutter eintraf, war sie bereits auf die Station der Kinderchirurgie verlegt worden. Ihre Atmung war gut, sie hatte annähernd zweieinhalb Liter Flüssigkeit verloren, und Herz, Lunge und alle anderen Organe schrumpften auf ihre normale Größe zurück. Weshalb fiel es ihr dann so schwer, sich zu freuen? Selbst ein kleines Lächeln erschien ihr beinahe unmöglich.
»Was ist los, Schatz?«, fragte ihre Mutter, die neben ihrem Bett stand.
»Nichts.«
»Bist du sicher? Du siehst so aufgelöst aus.«
Rose bemühte sich, ihre Mundwinkel nach oben zu ziehen. Es war ein aufgesetztes Lächeln – es kam nicht von innen. Nur damit sich ihre Mutter keine Sorgen machte. Ärzte und Therapeuten erklärten immer, dass Gefühle völlig in Ordnung waren, dass man ihnen Rechnung tragen sollte, selbst wenn sie unerwünscht waren –
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