Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
auch.«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Ich fühle mich ausgeschlossen«, sagte ihre Mutter. »Reiher, Wale. Könntet ihr bitte Menschensprache mit mir reden?« Rose hörte ihre Worte, aber dieser Augenblick war Dr. Neill und ihr vorbehalten. Er verstand, was es bedeutete, im Krankenhaus zu sein, zu befürchten, dass sie nie mehr gesund, dass sie immer anders sein würde. Sie hielt den Zeigefinger hoch, der zur Spitze hin breiter wurde; er sah ihn aufmerksam an. Er sah auch die IV-Kanüle, die im Handrücken steckte. Und den Katheter, der in einem Beutel neben ihrem Bett endete, was ihr überhaupt nicht peinlich war. Sie wünschte sich sogar, er würde sie auf den Arm nehmen, als wäre er ihr Vater.
»Ich bin heute nicht besonders fröhlich.«
»Das habe ich schon gemerkt«, sagte er.
»Ich habe Angst.«
Er nickte. Dann ging er neben ihrem Bett in die Hocke und sah ihr in die Augen. Die Luftballons hüpften über seinem Kopf auf und ab. Er versuchte, die Schnüre an den Gitterstäben des Bettes zu befestigen, aber er schaffte es nicht mit einer Hand. Rose half ihm. Ihre Finger berührten sich, und sie lächelte. Sie hatte immer noch Angst, doch dass er hier war, stimmte sie froh.
»Du hast mir Luftballons mitgebracht.«
»Ja.«
»Ich dachte, Luftballons sind schlecht. Wenn man die Schnur loslässt, fliegen sie vielleicht aufs Meer hinaus und fallen irgendwann ins Wasser, so dass die Meeresschildkröten sie mit Quallen verwechseln, sie fressen und daran sterben.«
»Du hast recht, Rose. Du würdest eine ausgezeichnete Meeresforscherin abgeben. Deshalb wusste ich, dass ich dir die Luftballons bedenkenlos mitbringen kann.«
»Weil mir die Meeresschildkröten wichtig sind?«
»Ja. Deshalb.« Er ergriff ihre Hand.
Rose schloss die Augen und spürte ihren Pulsschlag, schnell und leicht. Sie dachte darüber nach, dass eigentlich alle Lebewesen Schutz brauchten, auf unterschiedliche Weise. Ihre Mutter brauchte Schutz vor Kummer und Sorgen, die Meeresschildkröten vor Luftballons. Und sie selbst brauchte Schutz vor der Angst, wie es mit ihr weitergehen würde.
Wovor mochte Dr. Neill Schutz brauchen? Sie hatte keine Ahnung. Aber irgendetwas musste es geben, und deshalb drückte sie seine Hand, um ihn wissen zu lassen, dass sie für ihn da war.
Kapitel 15
D ie Hitzewelle erreichte Cape Hawk, so dass der Sommer eher jenen glich, die Jessica kannte. Jeden Morgen hüllte ein Dunstschleier die Klippen und Kiefern ein, bis er sich in der Hitze auflöste. Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel herab, kein Windhauch regte sich. Jessica trug Shorts über dem Badeanzug, doch statt in der kleinen Bucht schwimmen zu gehen, arbeitete sie hart.
Den Sackleinenbeutel in der einen Hand haltend, sammelte sie mit der anderen heruntergefallene Kiefernnadeln ein. Ein schmutziges Unterfangen – ihre Finger klebten vom Harz, aber sie machte unverdrossen weiter. Gebückt arbeitete sie sich durch die Schonung hinter dem Haus, begutachtete jede Handbreit des Bodens. Blätter und Zweige blieben unbeachtet, sie richtete ihr Augenmerk einzig auf die langen Nadeln der Weißkiefern.
Hin und wieder kam sie an einer Hemlocktanne oder einer Fichte vorbei – Bäume mit kurzen Nadeln. Kurze Nadeln gingen auch. Sie fand viele Kiefernzapfen – winzig kleine, die einem alten gemauerten Bienenwaben-Ofen in Puppengröße glichen. Die Zapfen der Hemlocktanne waren perfekt geformt und massiv, wie Rosenknospen mit ihren eng zusammengepressten Schuppen. Wenn sie welche fand, verstaute sie diese in einem anderen Beutel, der über ihrer Schulter hing. Die Weißkiefernzapfen waren länger, die Spitzen mit silbrigem Harz überzogen. Die ließ sie liegen.
Während sie das Areal hinter dem Haus und den tiefer gelegenen Rand des hügeligen Waldes durchkämmte, dachte sie an Rose. Was mochte sie gerade tun? Ob es ihr besserging? Gestern Abend hatte eine der Nanouks ihre Mutter angerufen, und sie hatte mitbekommen, wie sie sich unterhielten. Aber es gab offenbar nichts Neues zu berichten: Rose hält sich wacker, das klang nicht schlecht, aber auch nicht besonders gut. Danach hatte ihre Mutter die Website der Johns-Hopkins-Klinik im Internet angeklickt, um mit einer Sorgenfalte auf der Stirn irgendwelche Nachforschungen anzustellen.
Jessica versuchte sich einzureden, dass es egal war, was die Erwachsenen dachten. Sie arbeitete für Rose. Ihr Rücken schmerzte, und ihre Finger juckten, aber das kümmerte sie nicht. In Boston hatte sie eine katholische
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