Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Schule besucht, und die Nonnen hatten ihnen von der heiligen Agnes, der heiligen Agatha und von Jeanne d’Arc erzählt: junge Mädchen, Märtyrerinnen, die für den Herrn gelitten hatten. Legenden von Haarkleidern, Nagelbetten, Enthauptungen. Jessica hatte die Geschichten zunächst ziemlich langweilig gefunden. Vor allem die mit dem Haarkleid. Sie konnte sich nichts darunter vorstellen; war das wie ein Pelz oder nur ein Kleid?
Doch dann begann sie darüber nachzudenken: Vielleicht war das Martyrium einer von mehreren Wegen im Leben – nicht die Enthauptung, aber alles andere. Bei vielen Kämpfen, die diese Heiligen früher auszufechten hatten, spielten Dämonen eine Rolle. Eine der irischen Nonnen, Schwester Ignatius, die ihr eine Heidenangst eingejagt hatte, erzählte mit Vorliebe Geschichten über den Teufel. »Luzifer weilt mitten unter uns«, berichtete sie in ihrem singenden Wicklow-Tonfall. »Er existiert genauso sicher wie ihr oder ich. Wir begegnen ihm jeden Tag aufs Neue und müssen alles daransetzen, ihn aus unserem Leben zu verbannen!« Jessica glaubte ihr und gelangte zu dem Schluss, dass – wenn sie bereit war zu leiden oder ein Opfer zu bringen – es ihr vielleicht gelingen würde, Ted aus dem Haus zu vertreiben.
In der ersten Woche versuchte sie, auf die Zimttörtchen zu verzichten. Aber Ted blieb und ließ keinerlei Anzeichen erkennen, dass er zu weichen beabsichtigte. Dann griff sie zu drastischeren Mitteln: Sie opferte den Pudding bei der Schulspeisung. Trug Schuhe, aus denen sie herausgewachsen war, so dass ihre Zehen weh taten. Kniete so lange auf dem nackten Holzfußboden, bis ihre Knie, ihre Hüften und ihr Kreuz schmerzten. Sie besaß kein Nagelbett, aber einmal hatte sie versucht, nachts in der Badewanne zu schlafen.
Ihre Mutter hatte sie gefunden und gedacht, sie sei geschlafwandelt. Sie hatte Jessica umgehend ins Bett gebracht – bevor Ted etwas merkte. Ted verabscheute alles, was nicht der Norm entsprach. Er hätte die Tatsache, dass Jessica in der Badewanne geschlafen hatte, so dargestellt, als sei das ein Staatsverbrechen, ein Schlag ins Gesicht. Vielleicht hätte er gebrüllt oder sie nur schweigend angestarrt – mit seinen kalten, boshaften Augen. Jessica konnte ihn beinahe zischen hören: »Warum versuchst du, mich auf diese Weise zu verletzen?«
Da die Badewanne tabu und kein Nagelbett vorhanden war, hatte Jessica ihre Bettwäsche gewechselt – statt der weichen rosafarbenen mit den aufgedruckten weißen Lämmern hatte sie die harte kratzige genommen, die ihre Mutter versehentlich als Sonderangebot bei Max-Mart gekauft hatte. Sie fühlte sich fürchterlich auf der Haut an. Darüber hinaus hatte sie ihre Beine mit Nähnadeln aufgeritzt. Es bereitete ihr ein grimmiges Vergnügen, kleine Blutstropfen auf den billigen Laken zu sehen. Ihre Mutter hatte gedacht, sie hätte an ihren Mückenstichen gekratzt.
Sie sollte nie erfahren, ob ihr Martyrium letztlich doch Früchte getragen hätte – fest stand, sie hatte Ted nicht aus dem Haus treiben und Tally nicht retten können. Doch an jenem Abend hatte ihre Mutter beschlossen, dass es nun genug war. Als Ted den kleinen Hund mit Fußtritten traktierte und umbrachte, hatten sie im Dunkel der Nacht nur mit dem Nötigsten versehen das Weite gesucht, waren dick eingemummt mit dem Auto davongebraust.
Während Jessica weitere Kiefernnadeln aufhob, blieb sie vor einem flachen Stein stehen, auf dem sie letzte Woche eine Vipernatter entdeckt hatte, die sich sonnte. Sie hatte ihr rosafarbenes Maul geöffnet und sie angezischt, und obwohl es eine kleine Schlange war, fühlte sie sich schaudernd an Ted erinnert.
Jessica wünschte sich, dass sie jetzt auftauchen möge. Sie würde sie zertreten, mit bloßen Füßen, wie die Jungfrau Maria. Sie würde Schlangen, Dämonen, böse Zauberer und Männer wie Ted vertreiben, damit Rose gesund werden konnte. Das war der einzige Weg. Langsam ging sie durch die Kiefernschonung, hob weitere Nadeln auf, mit heißen, klebrigen Händen und schmerzendem Rücken, als sie plötzlich etwas Blaues in den Bäumen aufblitzen sah.
Zuerst dachte sie, es sei die Jungfrau Maria, die sie tiefer in den Wald hineinführen wollte, doch dann sah sie im Geäst einer Fichte über ihr, dass es nur ein Eichelhäher war. Ein hübscher, bunt gefiederter Eichelhäher mit einem Schopf. Beileibe keine Jungfrau Maria.
Als Jessica drei große Beutel gefüllt hatte, fand Marisa, dass es an der Zeit für einen Abstecher in die
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