Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
von mir«, sagte sie und hielt ihn fest.
Er nickte, doch er wusste, dass es dazu eines Wunders bedurft hätte. Bevor das geschah, müsste er erst einmal den fünfzehn Zentimeter dicken Panzer und das Kevlar-Kraftfeld durchdringen, mit denen sie sich umgeben hatte. Doch er versprach, sie herzlich zu grüßen und ihr alles Gute von Anne auszurichten. Da entdeckte er die Werbung auf dem Tresen.
»Was ist denn das?« Er deutete auf das Plakat, auf dem es hieß: »Helft Unserer Rose Zu Wachsen«. Darunter befanden sich Bilder von Rose – in ihrer Schulklasse, bei der Geburtstagsparty und mit Lily.
»Oh! Das hätte ich beinahe vergessen. Roses Freundin Jessica Taylor kam vor drei Tagen auf die Idee, und die Nanouks waren gleich Feuer und Flamme. Wir verkaufen Kiefernnadelkissen, um Geld für Rose zu sammeln. Die Kiefer ist ein Wahrzeichen von Nova Scotia, die Touristen lieben sie. Die Mädels waren die ganze Nacht auf den Beinen, um die Kissen zu machen.«
Liam nahm ein Kissen in die Hand – es war mit einem Bild von Nanny bestickt, mit grünem Faden, und darunter standen die Worte »Bring Rose Heim«. Es roch unverkennbar nach Kiefernnadeln. Anne zeigte ihm die Schachtel, die das eingenommene Geld enthielt. »Vier haben wir schon verkauft. Die Gäste nehmen sie als Souvenir mit, wenn sie abreisen.«
»Ich nehme auch eins.«
»Aber nur als Geschenk. Du tust schon genug in dieser Sache.«
»Lass mich bitte bezahlen. Ich bestehe darauf.«
Widerstrebend nahm sie das Geld. Sie reichte ihm das Wechselgeld und eine kleine Tüte. Sie enthielt Schmuck aus winzigen Kiefernzapfen, besprüht mit Goldlack, mehrere Paar Ohrringe, Halsbänder und einen Ring.
»Den Schmuck hat Jessica für die Krankenschwestern gemacht«, sagte Anne. »Um sicherzugehen, dass Rose richtig behandelt wird.«
»Schön, wenn man so gut miteinander befreundet ist.« Liam war stolz, dass es Rose gelungen war, so viel Zuneigung und Loyalität zu wecken. Doch das überraschte ihn nicht. Sie war eben von Geburt an etwas Besonderes.
In diesem Moment bog Camille um die Ecke. Seit sie im letzten Jahr einen kleinen Schlaganfall erlitten hatte, ging sie am Stock. Doch ihre Miene war noch genauso sauertöpfisch und ihr weißes Haar genauso blaustichig wie immer. Liam wusste, dass sie auch nicht viel zu lachen gehabt hatte – seit ihr Mann vor der Küste Irlands ertrunken war.
»Liam, mein Lieber.« Sie trat näher und küsste ihn. »Wo hast du gesteckt?«
»In Melbourne.«
»Melbourne? Hast du da eine neue Flamme?« Sie lächelte.
»Nein.« Er deutete auf das Plakat mit den Fotos von Rose. »Ich habe mich um Lily und Rose gekümmert.«
Camilles Lächeln erlosch mit einem Schlag. »Ich war seit jeher der Meinung, dass die Rezeption kein geeigneter Ort ist, um Spenden zu sammeln. Unsere Gäste zahlen genug für den Aufenthalt in unserem Haus, da müssen wir ihnen nicht auch noch Schuldgefühle machen und sie nötigen, Geld für irgendeine lokale Wohltätigkeitsveranstaltung hinzublättern.«
Liam maß sie mit Blicken. »Es geht um Rose, nicht um irgendeine lokale Wohltätigkeitsveranstaltung.«
Sie senkte die Augen und lachte nervös. Er überragte sie um Haupteslänge und hatte gerade seine Haiforscher-Stimme gegen seine eigene Tante erhoben, aber ihr eigener Ton war so herrisch gewesen, dass er kein schlechtes Gewissen hatte.
»Mein Lieber, man könnte meinen, sie sei deine Tochter, so wie du dich benimmst. Wenn ich nicht genau wüsste, dass ihre Mutter bei ihrer Ankunft bereits hochschwanger gewesen war, könnte ich mich eines gewissen Verdachts nicht erwehren.«
»Hochschwanger bei Ankunft. HBA«, warf Anne trocken ein.
»Sie ist nicht meine Tochter«, erwiderte Liam gelassen.
»Aber sie liegt dir am Herzen. Rührend, wirklich rührend. Weißt du – ich lehne mich ziemlich weit aus dem Fenster, wenn ich dir jetzt etwas sage, und wahrscheinlich wirst du mir den Kopf abreißen, aber stellvertretend für deine lieben Eltern und als letzte Überlebende ihrer Generation sehe ich mich verpflichtet, das Kind beim Namen zu nennen. Ich habe den Eindruck, als würde die Aufmerksamkeit, die du den Malones widmest, dich daran hindern, Frauen deines Standes kennenzulernen. Intelligente, gebildete Frauen, die sich darum reißen würden, einen so netten jungen Mann wie dich zu heiraten.«
»Frauen meines Standes?« Er hatte wie so oft das Gefühl, wenn er sich mit seiner Tante unterhielt, mitten in einen Roman aus der Viktorianischen Epoche
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