Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
selbst das Schicksal zu ersparen, das Laci und ihr ungeborener Sohn Conner erleiden mussten?
Sie schüttelte ihre Gefühle ab und musterte das halbfertige Stickbild; sie dachte an Liam, fragte sich, wo er gerade sein mochte, warum er noch nicht zurück war. Er hatte die Sachen abgeholt, die sie für Boston brauchte – ohne sie konnte sie nicht fahren. Sie redete sich ein, dass dies alles sei, dass er ihr nicht fehlte, sie brauchte weder seine Hilfe noch die eines anderen Menschen. Die Nanouks waren für sie da, und Liam hatte mehr als seinen Beitrag geleistet. Doch abgesehen davon, ging es nur um Rose und sie, so wie immer.
Da Rose tief und fest schlief, legte Lily die Stickerei beiseite und tastete den Brustkorb ihrer Tochter ab. Ganz leicht, nur mit den Fingerspitzen, um den Herzschlag zu spüren. Sie dachte an die Zeit kurz nach Roses Geburt. Die Entbindung war ohne Komplikationen zu Hause vonstatten gegangen. Alles schien in bester Ordnung. Sie war überglücklich und erleichtert, dass sie sich in Sicherheit befanden, wenngleich der Gedanke sie traurig stimmte, dass ihre Großmutter das Baby nicht kennenlernen konnte, noch nicht, und nur der Himmel wusste, wann der Tag kommen würde.
Roses erstes Bad …
Lily hatte das Waschbecken mit Wasser gefüllt und mit dem Ellenbogen die Temperatur geprüft, ein Rat ihrer Großmutter in den ersten Monaten der Schwangerschaft, als jede Lektion von unschätzbarem Wert und der Gedanke, ein Kind zu bekommen, neu und unfassbar gewesen war. Sie hatte das Gefühl, ihre Großmutter sei bei ihr, um ihr zu sagen, dass sie ihre Sache gut machte.
Während sie Rose hielt und liebevoll betrachtete, hatte sie den kleinen Brustkorb berührt und etwas Seltsames unter ihren Fingerspitzen ertastet. Nicht das beruhigende Klopfen des Herzens, sondern ein Vibrieren, dem Schnurren einer Katze ähnlich, das aber nicht mit dem Herzschlag, sondern im Anschluss daran erfolgte. Rose sah sie an, genoss offenbar ihr erstes Bad im warmen Wasser, und deshalb hatte sie den Gedanken zu verdrängen versucht. Aber sie fühlte sich beunruhigt und prüfte ständig nach, ob das kaum merkliche Zittern noch vorhanden war.
Wenige Tage später trat der erste hypoxämische Anfall auf, bei dem Rose blau anlief.
Liam war bei ihr gewesen – wie jeden Tag seit Roses Geburt. Sie fühlte sich gehemmt in seiner Gegenwart, weil er während der Entbindung einiges gesehen und gehört hatte, doch insgeheim waren ihr seine Besuche willkommen.
Die Tage waren lang, und es war noch hell draußen, wenn er nach der Arbeit auf dem Forschungsschiff kurz bei ihr vorbeischaute. Er führte Haistudien an den Surfstränden östlich von Halifax durch, kehrte aber jeden Abend nach Cape Hawk zurück, um bei Rose und Lily nach dem Rechten zu sehen.
Die Sonne verschwand hinter den Kiefern, und das Cottage war von langen Schatten und goldenem Licht erfüllt. Lily genoss die Abendstimmung und verzichtete darauf, eine Lampe einzuschalten; sie wiegte Rose, stillte sie im Dämmerlicht. Wenn Liams Truck die steinige Zufahrt entlangratterte, wickelte sie Rose in eine Decke und wartete darauf, dass seine Schritte auf der Veranda erklangen.
Meistens war er mit Lebensmitteln bepackt, wenn er das Haus betrat. Lily fühlte sich unbehaglich – er weigerte sich, Geld dafür anzunehmen, und sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, weshalb er das alles für sie tat. Unmittelbar nach dem Auszug aus dem Gasthof waren sie sich in der Stadt begegnet – als er sie sah, eine Fremde, die ein Kind erwartete, war ihm schlagartig klar geworden, dass sie die Frau gewesen sein musste, die er in dem Zimmer weinen gehört hatte. Er hatte sie angesprochen, weil sie Bücher in dem Zimmer vergessen hatte, und gefragt, ob er sie ihr vorbeibringen solle. Es war reiner Zufall, dass er ausgerechnet an jenem Abend aufgekreuzt war, an dem Rose geboren wurde – und sie angetroffen hatte, als die Wehen eingesetzt hatten.
Danach war er jeden Tag gekommen. Er hatte ihr angeboten, den Laden neben seinem Büro zu mieten, für ein Geschäft ihrer Wahl. Er hatte Lebensmittel und Windeln mitgebracht und gesagt, sie könne ihre Schulden begleichen, sobald sie Fuß gefasst habe.
Während sie die Lebensmittel verstaut hatte, hielt er Rose für sie. Das schien das Mindeste zu sein, was Lily tun konnte – er hing offensichtlich an dem Kind, das mit seiner Hilfe zur Welt gekommen war. Doch wenn sie sah, wie er Rose mit seinem gesunden Arm behutsam an sich
Weitere Kostenlose Bücher