Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
hineingeraten zu sein. Aber er wusste auch, dass sie in der ihr eigenen unergründlichen Art Geld in den Treuhandfonds einbezahlt hatte, der vor Jahren für Rose errichtet worden war, als ihre gesundheitlichen Probleme offenkundig wurden.
»Ich bin sicher, du weißt, was ich meine. Du hast einen Doktortitel. «
Liam schüttelte den Kopf. »Also, ich muss nach Melbourne zurück. Anne, sag Jessica vielen Dank für ihre Bemühungen.«
Annes Augen blitzten. »Wir wissen alle, wer sich um Rose kümmert.«
»Psst«, erwiderte Liam.
»Die Kiefernnadelkissen können bleiben«, warf Camille ein. »Sie sind in ihrer schlichten Machart ansprechend. Niemand soll behaupten können, Camille Neill sei hartherzig!«
»Danke, Camille.« Anne zwinkerte Liam hinter ihrem Rücken zu. »Ich sag ja: rauhe Schale, weicher Kern.«
»Da hat sie recht, Tante Camille.« Liam umarmte sie.
»Schluss mit der Gefühlsduselei.« Camille lehnte einen Moment lang ihren Kopf an seine Schulter, bevor sie davonhumpelte.
»Frauen deines Standes.« Anne lächelte. »Klingt wie eine aberwitzige Kombination aus Prüderie und Porno, Jane Austen und Debbie Does Dallas .«
Liam grinste und versuchte, alles, was er mitnehmen wollte, in seinem gesunden Arm zu verstauen. Anne half ihm dabei, doch plötzlich hielt sie inne und tätschelte seine Wange.
»Du bist ein Mann, wie man ihn sich nur wünschen kann, Liam Neill. Wie dein Cousin Jude.«
»Danke.«
»Meine Freundin Lily ist eine harte Nuss, aber gib nicht auf.«
»Zwischen uns läuft nichts. Es geht mir nur um Rose.«
»Aha. Trotzdem, denk an meine Worte – gib nicht auf. Sie braucht dich, Liam. Das war schon immer so.«
Liam schüttelte den Kopf, bemühte sich, die Gefühle zu verbergen, die ihre Worte in ihm ausgelöst hatten. Darauf verstand er sich hervorragend – Empfindungen zu verdrängen –, und deshalb runzelte er nur die Stirn und warf den Wäschesack über die Schulter.
»Glaub mir, das ist so.« Anne tätschelte ihm ein letztes Mal die Wange. »Seit sie HBA in unserer Stadt auftauchte. Richte ihr alles Liebe von mir aus, ja?«
»Mach ich.« Liam gelang es nicht, zu lachen, obwohl Annes blitzende Augen ihn dazu aufforderten. Er machte Anstalten, das Kiefernnadelkissen im Wäschesack zu verstauen.
Anne senkte den Blick und deutete auf das Stickbild. »Seit Roses Geburtstag wurde Nanny nicht mehr gesichtet. Jude sagt, sämtliche Walbeobachtungsboote halten nach ihr Ausschau, haben bisher aber keine Spur von ihr entdecken können.«
»Wirklich? Normalerweise verbringt sie den ganzen Sommer hier und bleibt, bis es schneit.«
»Ich weiß. Jude meint auch, das sei merkwürdig.«
Sie verabschiedeten sich. Liam trat aus dem Gasthof und ging über den Parkplatz zu seinem Truck. Er hatte den Wagen des Kommandanten am Kai der Küstenwache abgeliefert und war vom Leuchtturmwärter nach Hause gefahren worden. Liam stieg ein, und als er auf der klippenreichen Straße gen Süden fuhr, blickte er auf die Bucht hinaus. Er sah die schwarzen Rücken mehrerer Finnwale, die sich auf dem Weg zu ihren Futterplätzen befanden. Glänzendes Schwarz, wie die Kuppe eines Hügels, der aus dem Wasser emporragte und in der Tiefe verschwand.
Sein Laptop lag neben ihm, und er fuhr an den Straßenrand, um Daten einzugeben. Auf dem Bildschirm blinkten grüne und purpurrote Punkte. Zahlreiche Haie hielten sich in den Gewässern rund um Halifax auf – viel mehr als gewöhnlich. Die purpurroten Punkte, die große weiße Haie kennzeichneten, waren hier besonders dicht. Liam tippte ›MM122‹ ein und wartete, dass Nannys grüner Punkt auf dem Schirm zu blinken begann, aber nichts rührte sich.
Liam versuchte es abermals – immer noch kein Signal. Hatte der Sender seinen Geist aufgegeben? Die Batterien waren mehrere Monate alt; er hatte sie im Sommer ersetzen wollen, sobald es Jude gelungen wäre, ihn mit seinem Boot nahe genug an Nanny heranzubringen. Sein Magen verkrampfte sich, als er an die Gefahren dachte, die ihr drohten. In der Bucht wimmelte es von Haien – das wusste er auch ohne die purpurroten Punkte, die ihm angezeigt wurden. Plötzlich fiel ihm wieder ein, wie gierig Gerard Lafarge Nanny mit seinem Feldstecher beobachtet hatte, an dem Tag, als Rose Geburtstag gefeiert hatte. Raubtiere gab es in allen Spezies. Allein der Gedanke machte ihn krank.
Er wählte Judes Handynummer.
»He, wo in Dreiteufelsnamen hast du gesteckt?«, begrüßte ihn Jude, der Liams Nummer auf dem Display gesehen
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