Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Edward nun musterte. Es juckte sie buchstäblich in den Fingern – am liebsten hätte sie ihm die Augen ausgekratzt. Sie hatte nicht gewusst, dass sie zu einem derart unverhohlenen, leidenschaftlichen, unverfälschten Hass fähig war, bis Mara verschwand. Zwei Wochen vor dem voraussichtlichen Entbindungstermin war ihre geliebte Mara, ihr Ein und Alles, verschwunden, war wie vom Erdboden verschluckt …
»Lassen wir das Geplänkel. Was führt dich hierher?«, fragte sie unverblümt.
»Ich habe noch ein paar Sachen von Mara und dachte, du hättest sie vielleicht gerne.« Er drückte die Tasche an seine Brust. »Die Polizei hat sie mir ausgehändigt, nachdem sie für eine Weile beschlagnahmt worden waren. Seither waren sie in meinem Kofferraum, aber ich hatte erst jetzt die Gelegenheit, sie dir zu bringen.«
»Ich will sie nicht.«
Seine Augen weiteten sich überrascht. Maeves Lippen zitterten. Sie wandte sich halb zur Seite, den Gartenschlauch auf die Wurzeln der Rosenbüsche richtend, die an der seitlichen Hauswand emporkletterten. Dichte unverwüstliche Büsche mit weißen und gelben Rosen, die nun in voller Blüte standen. Sie brachte es nicht über sich, nach oben zu blicken, wo die Blütenpracht am üppigsten war. Das Rankgitter endete knapp unterhalb des Schlafzimmerfensters – Maras früherem Zimmer, das wieder Kinderzimmer werden sollte, wenn sie mit dem Baby zu Besuch gekommen wäre.
»Nimm schon, ich bin sicher, dass du sie haben möchtest«, drängte er.
»Hmmm«, sagte sie in gespielt gleichgültigem Ton. Ihre Hände bebten, so groß war ihr Wunsch, einen Blick in die Tasche zu werfen. Aber das durfte sie nicht zu erkennen geben, wie sie von Mara wusste. Bei einem ihrer Besuche, zu Anfang der Schwangerschaft, war ein Teil der Wahrheit über Edward ans Tageslicht gekommen – obwohl sich Mara mit jeder Faser ihres Körpers dagegen gewehrt hatte, sie zur Kenntnis zu nehmen. Sie verdrängte sie, gab vor, eine ›glückliche‹ Ehe zu führen, ein Paar zu sein, das sein erstes – zumindest von Mara – heiß ersehntes Kind erwartete.
»Ich begreife es nicht, Granny«, hatte sie damals gesagt. »Sobald er merkt, dass ich glücklich bin oder mich über etwas freue, schießt er quer. Wie gestern Abend. Das ganze Frühjahr lang hat er mir erzählt, dass er mich in das Hawthorne Inn zum Abendessen ausführen will. Aber zuerst war mir ständig übel, und dann war ich zu müde, weil ich jede Menge Arbeit hatte – also, gestern Abend hätte ich zum ersten Mal richtig Lust gehabt, auszugehen. Wir hatten uns umgezogen und wollten los – waren schon fast aus der Tür, als er seine Meinung änderte. Er sah mich an und meinte, ihm sei nicht danach. Jetzt sei er zu müde.«
»Vielleicht war er das ja«, hatte Maeve damals gesagt. Heute hätte sie sich dafür ohrfeigen mögen, aber damals hatte sie Mara nahelegen wollen, ihm das im Zweifelsfall zugutezuhalten.
»Nein, das war er nicht.« Mara hatte zu weinen begonnen. »Er ließ mich zu Hause und zog alleine los, um im One Hundred Acres eine Runde Golf zu spielen.«
Maeve erinnerte sich an die Tränen. Sie starrte auf das Wasser, das der Gartenschlauch versprühte, und dachte an all die Tränen, die Mara geweint haben musste – und vor ihrer Großmutter verborgen hatte. Sie spürte beinahe, wie krampfhaft Edward versuchte, seine Verärgerung im Zaum zu halten.
»Das sind Maras Sachen«, wiederholte er. »Ich dachte, du möchtest …«
»Leg sie vor die Tür.«
»Du bist ihre Großmutter. Ich dachte, es interessiert dich …«
Maeve heftete ihren Blick auf die Wurzeln der Rosenbüsche. Eine kühle Brise wehte vom Long Island Sund herüber. Erinnerte sich Edward daran, wie oft er mit Mara segeln gewesen war? Und sie sich an derselben Stelle mit demselben Gartenschlauch abgeduscht hatten? Maeve hörte, wie eine Fliegengitter-Tür ins Schloss fiel, und keine dreißig Sekunden später erschien eine atemlose Clara auf der Bildfläche.
»Hallo, Edward.«
»Tag, Mrs. Littlefield. Sie sehen toll aus. Lange nicht gesehen!«
»Ja, ziemlich lange.« Claras Ton war eine Spur freundlicher, als Maeve es sich gewünscht hätte.
»Ich wollte Maeve ein paar Sachen von Mara vorbeibringen, aber es scheint, als möchte Maeve nichts davon wissen.«
»Ich nehme sie«, erbot sich Clara, und in dem Moment, als die Tasche aus Edwards Hand in Claras wechselte, wich die Anspannung von Maeve und sie hatte plötzlich weiche Knie.
»Es ist lange her, und eigentlich
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