Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
einst den Hafen geschützt hatten und in der Zeit erbaut worden waren, als das Land von den Franzosen in Besitz genommen und Acadia genannt wurde.
Sie fuhren nach Südwesten, an der Südküste entlang. Lily verspürte einen Anflug von Heimweh – jedes Mal, wenn sie in einem Fahrzeug saß, das in Richtung Neu-England unterwegs war, verspürte sie diese Sehnsucht. Sie rutschte nach unten, zwängte sich fester in ihren Sitz und genoss die kühle Brise, die durch das offene Fenster drang. Heute Abend hatte sie das Gefühl, als sei die Luft besonders prickelnd und der Sog so stark, als würde ihre Großmutter ihren Namen rufen.
Das Firmament war mit Sternen übersät. Sie glichen einer Lichterkette, aufgereiht am Horizont. Der mit Geröll bedeckte Hang fiel steil zum Atlantik ab, und die Gestirne schienen dem Meer zu entspringen.
Sie fuhren um eine Kurve und gelangten zum Leuchtturm am anderen Ende des Hafens von Melbourne. Seine Strahlen flammten auf, erhellten den Himmel. Liam bog nach links auf einen ungepflasterten Weg ein, der zum äußersten Zipfel der Klippe führte, auf dem der Leuchtturm stand. Dann griff er nach dem Laptop; er balancierte ihn auf seinem Knie und schaltete ihn ein. Lily sah grüne und purpurrote Punkte auf dem Bildschirm blinken.
»Was sind das für Punkte?«
»Haie und Wale.«
»Die kann man sichtbar machen?«, fragte sie fasziniert.
»Ich führe eine Studie durch, ein sogenanntes Catch-und-Release-Programm. Die Tiere werden nur kurz gefangen und wieder freigelassen, um Migrations- und Beutejagdverhalten zu erforschen.«
Beutejagd. Das Wort war mit alten Gedankenverbindungen befrachtet, die Lily erschauern ließen.
»Welche Leuchtpunkte kennzeichnen die Haie?«
»Die purpurfarbenen.«
»Wo halten sie sich auf?«
»Dieser Bildschirm zeigt die Küstenlinie, die sich genau vor uns befindet. Siehst du den dunkelsten Abschnitt? Das ist die Landmasse – der südliche Teil von Nova Scotia, von Melbourne bis Halifax.«
»Mir ist nie aufgefallen, dass Nova Scotia die Form eines Hummers hat.« Lily betrachtete auf dem Bildschirm die Silhouette der Halbinsel, die sich deutlich vom hellen, schieferfarbenen Meer abhob – beängstigend angefüllt mit purpurroten Leuchtpunkten.
Verstohlen musterte sie Liams Gesicht. Er wirkte rundum heiter und zufrieden – wie schaffte er das, wo sich doch Unmengen von Haien im Meer tummelten, von der Sorte, die Connor getötet hatte?
»Wie kommt es, dass du dein Leben der Erforschung von solchen Ungeheuern widmest?«
»Du meinst Haie?«
»Ja.«
»Sie sind keine Ungeheuer, Lily. Sie können gefährlich sein, das ja. Aber da ist ein Unterschied.«
»Und der wäre?« Sie dachte an ein anderes Raubtier.
»Haie töten nicht, um Schmerz oder Leid zu verursachen. Sie töten, um zu fressen. Ein instinktgesteuertes Verhalten – und ihre Art, zu überleben. Das musste ich lernen, um meinen Hass auf sie begraben zu können.«
Lily dachte an ihr gebrochenes und an Roses krankes Herz. Es war ein menschlicher Hai gewesen, der den Schmerz und das Leid verursacht hatte, an denen sie beinahe zerbrochen wäre, der sie zur Flucht getrieben und Roses Herzdefekte zu verantworten hatte. »Wie kann man den Hass auf jemanden begraben, der einem so viel angetan hat?«
»Es bleibt einem keine andere Wahl. Sonst geht man selber zugrunde.«
Lily starrte die purpurfarbenen Leuchtpunkte auf dem Bildschirm an. Dann blickte sie aus dem Fenster des Trucks, Richtung Süden. Ein paar hundert Meilen entfernt, auf der anderen Seite des Meeres, lag Boston und dahinter ihre alte Heimat. Sie überlegte, wie viele Haie wohl zwischen ihr und dem Ort schwimmen mochten, den sie so liebte.
»Ich weiß, was Hass ist«, sagte sie.
»Das dachte ich mir schon. Das ist einer der Gründe, warum ich dich heute Abend hierherbringen wollte.«
»Und wie hast du das gemerkt? Sieht man es mir an?«
Er schwieg, sah auf das dunkle Meer hinaus. Der Strahl des Leuchtturms glitt über das spiegelglatte Wasser, tauchte es im Abstand von vier Sekunden in grelles Licht. »Man merkt es. Du hast nur deinen Freundinnen Zutritt zu deinem Leben gewährt – Anne, den Nanouks. Aber von allen anderen schottest du dich und Rose ab.«
»Das sagt der Richtige.« Lily lächelte.
»Ich weiß – deshalb fällt es mir bei dir ja auch auf. Das Computerprogramm hat mir die Augen geöffnet, mit seiner Hilfe erkannte ich, was ich am meisten hasste.«
»Ich habe mein Bestes getan, um schlau aus ihm zu werden«,
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