Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Geste berührte und erschütterte ihn zugleich, und es fiel ihm schwer, es zu verbergen. Rose sah ihm in die Augen.
»Vielleicht bin ich aber nicht der einzige Mensch, den sie hat«, sagte sie.
Liams Herz klopfte. Sie dachte nicht daran, den Blick abzuwenden.
»Vielleicht nicht, Rose.«
Sie sahen sich lange an, und Liam spürte, wie er stillschweigend ein weiteres Versprechen ablegte, das er nicht in Worte fassen konnte.
Als Lily zurückkehrte, war alles klar. Die Sonne war untergegangen und die Scheinwerfer am Fuße des Kriegerdenkmals brannten. Liam sah ihr gleißendes Licht draußen vor dem Fenster. Er dachte an den Tag vor vielen Jahren zurück, als sein Bruder geboren wurde. Es gab so viel Liebe auf der Welt, dass es unvorstellbar schien, sie könnte jemals verloren gehen.
Während er zusah, wie Lily Roses Haare bürstete und sie für die Nacht vorbereitete, ihre letzte Nacht in diesem Krankenhaus, wurde ihm etwas klar: Es hatte mit Connor zu tun, mit seinen Eltern, mit Lily und Rose und mit ihm selbst. Es war ihm nie bewusst geworden, doch nun würde er es nie mehr vergessen. Er musste es Lily erzählen, noch heute. Und er musste ihr etwas zeigen, was sogar ihm selbst unglaublich vorkam.
Nachdem Rose den Schwestern die Kiefernzapfen-Ohrringe geschenkt hatte, der Doktor ein letztes Mal zur Visite erschienen war, die Nachtschwester ihr ein Schlafmittel verabreicht hatte und Rose eingeschlafen war, packte Lily. Sie sah sich immer wieder im Raum um, meinte, etwas vergessen zu haben. Aber sie hatte alles – ihre Reisetasche, das Stickzeug, den Zimmerschlüssel des Hotels und das von Liam mitgebrachte Kiefernnadelkissen. Liam wartete an der Tür und beobachtete sie trotz aller Aufregung geduldig, als wollte er ihr alle Zeit der Welt lassen.
Sie traten ins Freie, wo die Nachtluft vergleichsweise schwül schien, nach der klimatisierten Kühle der Klinik. Lily war nervös und angespannt angesichts dessen, was am nächsten Tag bevorstand, aber auch zutiefst erschöpft. Sie ging auf seinen Truck zu, als sie plötzlich spürte, wie er ihren Arm nahm.
»Was ist?«
»Komm, wir gehen ein paar Schritte.«
Lily sah ihn verdutzt an, aber es kam keine Erklärung. Er führte sie in die entgegengesetzte Richtung, zum Stadtpark. Jugendliche amüsierten sich in dem muschelförmigen Musikpavillon, lachten und spielten Radiomusik. Liam lotste sie um die öffentlichen Grünanlagen herum zum spiegelnden Teich. Das Denkmal, von Halogenlampen angestrahlt, ragte in den dunstverhangenen Himmel empor. Lily sah das Spiegelbild in dem langen Wasserbecken schimmern und verspürte einen Anflug von Heimweh nach dem Meer.
»Weißt du, was mir fehlt …«, begann sie.
»Was, Lily?«
»Salzwasser.«
»Das gibt es hier auch, am Fuß des Hügels. Im Melbourne Harbor …«
»Ich weiß. Aber ich vermisse Cape Hawk. Und noch mehr vermisse ich meine Heimat.«
»Ich dachte, Cape Hawk sei deine Heimat, dein Zuhause.«
»Vor Cape Hawk.« Lilys Kehle war wie zugeschnürt; Erinnerungen überfluteten sie, an den warmen Sand, die silbergrüne Marsch und den geliebten Rosengarten, gehegt und gepflegt von einer Frau, die sie ihr ganzes Leben lang geliebt hatte. Was hatte das zu bedeuten? Normalerweise hatte sie sich gut im Griff, vor allem wenn es galt, sich für einen weiteren medizinischen Eingriff bei Rose zu wappnen. Doch nun fürchtete sie, vor Kummer und Sehnsucht zu vergehen.
»In der Nacht, als Rose geboren wurde, hast du um dein Zuhause geweint«, sagte Liam.
»Ich wusste, ich würde es nie wiedersehen.«
»Und du hast gerufen ›Ich brauche dich, ich brauche dich …‹«
Lily nickte und sah zu der Granitsäule empor. Er wartete geduldig auf eine Erklärung, doch sie traute sich nicht. Sie hatte Angst, damit ein Erdbeben in ihrem Inneren auszulösen. Sie musste ihre Gefühle in Schach halten, sie unterdrücken, damit das Fundament ihres Lebens nicht ins Wanken geriet. Die ersten Erschütterungen waren bereits zu spüren, gewannen an Stärke, und sie wollte das Schicksal lieber nicht zu einer Machtprobe herausfordern.
»Wen hast du gebraucht, Lily?«
»Ich würde es dir gerne sagen, Liam. Aber ich kann nicht.«
»Du bist in Sicherheit. Ich werde dich beschützen.«
»Du kannst mich nicht vor meinem eigenen Herzen schützen. Es bricht, wenn ich nur an sie denke – ich bringe es nicht fertig, von ihr zu sprechen.«
Er schwieg lange; Grillen zirpten im Gebüsch, Tiere raschelten im Gehölz. Lilys Herz war schwer – von der
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