Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
sagte Lily. »Aber der Vergleich mit einem Hai hinkt – er legt es darauf an, anderen Menschen Leid zuzufügen. Ich kenne mich aus, was das betrifft.«
»Man kann sich leicht in seinem Hass verrennen.« Liam drehte den Computerbildschirm, so dass Lily ihn anschauen konnte. »Wenn man nicht aufpasst, sieht man bald nur noch purpurfarbene Lichter. Und nimmt die grünen nicht mehr wahr.«
»Die grünen?«
»Wale. Die sanftmütigsten Geschöpfe des Meeres.«
Lily musterte den Bildschirm. »Hier gibt es nicht viele Wale. Es wimmelt nur so von purpurfarbenen Leuchtpunkten – ich kann nur drei grüne ausmachen.«
»Es ist schwieriger, Wale mit einem Sender auszustatten. Wir wollen die Tiere so wenig wie möglich stören.«
»Das heißt also, da draußen könnten sich viele verborgene Wale herumtreiben?« Sie lächelte.
»Genau. Und es gibt welche, die sich offenkundig dort herumtreiben, wo sie eigentlich gar nicht hingehören.« Er tippte mit dem Finger auf den Bildschirm. »Der da zum Beispiel.« Er betätigte mehrere Tasten, und die Kennung des Wals erschien in einem Fenster.
»MM122«, sagte Lily.
»Er, oder vielmehr sie, war noch vor einer Woche bei Cape Hawk. Sie verschwand ein paar Tage von der Bildfläche, aber nur, weil ich das Ortungsprogramm auf die heimischen Gewässer beschränkt hatte – auf den Bereich, wo sie sich normalerweise während der Sommermonate aufhält.«
»Der Wal ist bis zur Südküste geschwommen?« Ein Schauer lief über ihren Rücken, ohne dass sie wusste, warum.
»Nach Melbourne, genauer gesagt. In die Gewässer, die Melbourne am nächsten sind.«
»Ist das überraschend? Ungewöhnlich?«
»Sehr sogar.«
»Warum?«
»Es ist ein Beluga. Belugas ziehen selten weiter nach Süden als bis nach Cape Hawk. Sie gehören zu den sogenannten nördlichen Walen.«
»Wieso ist er dann hier?«, flüsterte Lily. Liam stellte den Laptop auf den Boden und ergriff ihre Hand. Sie bekam eine Gänsehaut. Er hatte noch nie ihre Hand gehalten. Seine Handfläche und Fingerspitzen waren rauh von der Arbeit auf den Booten. Dass er ihre Hand genommen hatte, machte ihr Angst; bestimmt wollte er ihr etwas Schlimmes schonend beibringen.
»Um in Roses Nähe zu sein, denke ich.«
»Was soll das heißen?«
»Es ist Nanny.«
Lily starrte auf den blinkenden grünen Leuchtpunkt, der ›MM122‹ kennzeichnete. Dann sah sie auf das endlose schwarze Meer hinaus. Der Strahl des Leuchtturms glitt über das Wasser, tauchte die weißen Schaumkronen der kabbeligen Wellen in helles Licht. Liam holte einen Feldstecher aus dem Türfach. Er suchte die Oberfläche ab, dann hielt er abrupt inne.
»Es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen, aber sie ist da.«
»Sie kann doch nicht wegen Rose gekommen sein.«
»Wieso nicht? Wieso sollte das nicht möglich sein?«
»Weil sie ein Wal ist – sie hat keine Gefühle. Sie kann unmöglich wissen, wie sehr Rose sie braucht und liebt.«
»Und warum nicht?«, flüsterte Liam und berührte ihr Gesicht. Seine Hand war warm, und sie schmiegte sich hinein.
»Könnte es sein, dass sie Signale aussendet wie eine Fledermaus, genau wie in Roses Schulaufsatz? Oder so etwas wie Schallwellen in ihren Echokardiogrammen? Denkst du, Nanny wäre tatsächlich in der Lage zu spüren, wie sehr Rose sie liebt? Nein …«
Liam antwortete nicht – zumindest nicht mit Worten. Er beugte sich über die Konsole, zog Lily an sich und küsste sie. Sein Mund war heiß, und sie schmolz dahin. Wellen brandeten gegen die Felsenküste, trugen das harte Gestein ab, glätteten die Kanten. Lily hörte sie, spürte die Erde beben. Sie zitterte innerlich und streckte die Hand aus, um Liams Wange zu liebkosen.
Die Frage, die sie gestellt hatte, klang in ihren Ohren nach. Und mit einem Mal wusste sie – Nanny war sehr wohl imstande, Roses Liebe zu spüren. Lilys Herz, lange Zeit kalt wie ein Eisblock, hatte vergessen, dass die Liebe den Wellen glich – geheimnisvollen, weit reichenden, niemals endenden Wellen. Wenn man lange genug wartete, berührten sie irgendwann das ferne Ufer. Die Wellen gaben nie auf.
Sie schlang beide Arme um Liams Hals und küsste ihn mit der ganzen Glut der Leidenschaft, die sich in neun Jahren in ihr aufgestaut hatte. Er umfasste ihre Taille mit seinem gesunden Arm. Draußen brandeten die Wellen gegen das harte Granitgestein. Eine spritzte hoch empor, und ein feiner Sprühnebel netzte ihre Gesichter. Lily schmeckte Salzwasser und blinzelte.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte
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