Wolken über Ebou
sich darüber streiten, ob ein Mann tatsächlich gewußt hatte, worauf er sich einließ. Manche Aes Sedai beherrschten Heuchelei als ebenso große Kunst wie Intrigen oder das Bewahren von Geheimnissen. Der Punkt war, daß sie wußte, daß er Nynaeve seine Liebe zu ihr nicht eingestanden hatte, sondern irgendwelchen Unsinn darüber erzählt hatte, daß er gebunden wurde, um früher oder später getötet zu werden, und sie nicht als Witwe zurücklassen wollte. Männer redeten stets Unsinn, wenn sie vernünftig zu sein glaubten. Hätte Nynaeve ihn ungebunden gehen lassen, wenn sie eine andere Chance gehabt hätte, gleichgültig, was er gesagt hatte? Hätte sie selbst Gawyn gehen lassen? Er hatte gesagt, er würde annehmen, aber wenn er seine Meinung änderte?
Nisao bewegte den Mund, fand aber nicht die richtigen Worte. Sie sah Siuan an, als wäre alles ihr Fehler, aber das war noch nichts gegen den Blick, den sie Myrelle zugedachte. »Ich hätte niemals auf Euch hören sollen«, grollte sie. »Ich muß verrückt gewesen sein!«
Myrelle behielt ihren unbewegten Gesichtsausdruck noch immer irgendwie bei, aber sie schwankte ein wenig, als wollten ihre Knie nachgeben. »Ich habe es nicht für mich getan, Mutter. Das müßt Ihr mir glauben. Ich mußte ihn retten. Sobald er außer Gefahr ist, werde ich ihn an Nynaeve weitergeben, so wie Moiraine es wollte, sobald sie...«
Egwene hob ruckartig eine Hand, und Myrelle brach so jäh ab, als hätte sie ihr auf den Mund geschlagen. »Ihr wollt seinen Bund an Nynaeve weitergeben?«
Myrelle nickte unsicher und Nisao weitaus heftiger. Siuan murmelte stirnrunzelnd etwas darüber, daß ein Fehler dreimal schlimmer wurde, wenn man ihn wiederholte. Lan war noch immer nicht langsamer geworden. Zwei Grashüpfer schwirrten aus dem Laub hinter ihm hervor, und er wirbelte herum und zerteilte sie mit dem Schwert in der Luft, ohne innezuhalten.
»Haben Eure Bemühungen Erfolg? Ist er in guter Verfassung? Wie lange habt Ihr ihn schon hier?«
»Erst knapp drei Wochen«, erwiderte Myrelle. »Heute ist der zwanzigste Tag. Mutter, es könnte Monate dauern, und es gibt keine Garantie.«
»Vielleicht ist es an der Zeit, etwas anderes zu versuchen«, sagte Egwene mehr zu sich selbst als zu jemand anderem und eher, um sich selbst zu überzeugen als andere. Unter diesen Umständen war Lan wohl kaum ein leicht zu überreichendes Geschenk für irgend jemanden, aber Bund hin oder her - er gehörte stärker zu Nynaeve, als er jemals zu Myrelle gehören würde.
Als sie zu ihm hinüberging, stiegen jedoch starke Zweifel in ihr auf. Er wirbelte in seinem Tanz zu ihr herum, das Schwert auf sie zustoßend. Irgend jemand keuchte, als die Klinge nur um Haaresbreite vor ihrem Kopf innehielt. Sie war erleichtert, daß nicht sie gekeucht hatte.
Strahlend blaue Augen in einem wie aus Stein gemeißelten, ebenmäßigen Gesicht betrachteten sie unter gesenkten Brauen eingehend. Lan senkte das Schwert langsam. Schweiß bedeckte seinen Körper, und doch atmete er nicht einmal schwer. »Also seid Ihr jetzt die Amyrlin. Myrelle hat mir erzählt, daß sie eine Amyrlin erhoben haben, aber nicht wen. Anscheinend haben wir beide eine Menge gemeinsam.« Sein Lächeln wirkte genauso kalt wie seine Stimme, genauso kalt wie seine Augen.
Egwene unterdrückte den Wunsch, ihre Stola zurechtzurücken, und rief sich ins Bewußtsein, daß sie die Amyrlin und eine Aes Sedai war. Sie wollte Saidar umarmen. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht wirklich erkannt, wie gefährlich er war. »Nynaeve ist jetzt ebenfalls eine Aes Sedai, Lan. Sie braucht einen guten Behüter.« Eine der anderen Frauen stieß einen Laut aus, aber Egwene hielt ihren Blick weiterhin auf ihn gerichtet.
»Ich hoffe, sie findet einen Helden aus der Legende.« Er lachte bellend. »Sie braucht einen Helden, der ihrem Temperament standhalten kann.«
Sein eishartes Lachen überzeugte sie. »Nynaeve befindet sich in Ebou Dar, Lan. Ihr wißt, wie gefährlich es in dieser Stadt ist. Sie sucht etwas, das wir verzweifelt brauchen. Wenn die Schwarze Ajah davon erfährt, werden sie Nynaeve töten, um es zu bekommen. Wenn die Verlorenen es herausfinden...« Sein Gesicht war ihr schon zuvor blaß erschienen, aber die in seinen sich verengenden Augen erkennbare Qual angesichts der Gefahr, in der Nynaeve schwebte, bekräftigte ihren Plan. Nynaeve, nicht Myrelle, hatte das Recht. »Ich schicke Euch als ihren Behüter zu ihr.«
»Mutter«, sagte Myrelle hinter ihr
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