Wolkenfern (German Edition)
wie schnell die Oma tanzen konnte, und sie enttäuschte sie nie. Gegen Ende ihres Lebens redete Destinee nur noch von der schwarzen Venus, ihrer schauspielernden Großmutter aus Paris, aber sie verlor ihr Gedächtnis oder bekam vielleicht ein anderes, besseres dafür, und die Geschichten waren voll von merkwürdigen Sprüngen – hoppla, auf den Kronleuchter! Hoppla, zwischen Kontinenten und Epochen! Hoppla, fort aus Paris! Hoppla, nach London und – hoppla – nach Bed-Stuy, und manchmal – hoppla! – schlief die Greisin mitten im Satz ein, mit offenem Mund, aus dem ihr ein Speichelfaden rann.
Destinees jüngste Urenkelin Sara fand diese seltsam bruchstückhafte Geschichte aufregender als Kino und saugte wie ein Schwamm jedes Wort auf, fragte: und weiter? Und weiter? Erzähl von der schwarzen Venus, Oma, bettelte sie, als außer ihr niemand mehr die alte Frau ernst nahm. In Paris, erzählte Destinee, da hatte die Venus ein ganz anderes Leben als eine Negerin aus Brooklyn, und Sara ließ sich den Ausdruck »ein anderes Leben« auf der Zunge zergehen wie das letzte Stückchen Fleisch von einem Hühnerknochen. Paris ist eben Paris, die mit Marmor gepflasterten Straßen sind breit wie der Hudson, von der einen Seite kann man kaum bis zur anderen sehen, es gibt einen Park, wo ununterbrochen gepicknickt wird und wo kostenlos gebratene Hühnchen und Ochsenzunge verteilt werden, und für die Kinder gibt es mehr als genug Süßkartoffeln, und dieser schöne Ort heißt Ostkap. Ostkap in Paris!, seufzte Sara und leckte beim bloßen Klang dieses Namens die Lippen, aber auch deshalb, weil sie gerne aß, insbesondere die Gerichte, von denen die Urgroßmutter erzählte. Destinee, die sich nur noch von schwarzen Lakritzschnüren und vorgekautem Toast ernährte, führte sich gehaltvollere Nahrung mittels ihrer Erzählungen zu, und egal in welcher historischen Zeit sie in ihrer Geschichte von der schwarzen Venus gerade steckte, es kamen gebratene Hühnchen und Ochsenzungen darin vor, denn nachdem sie sich ihr Leben lang kaum je hatte satt essen können, stellte sie sich so den Himmel vor. Sie schnalzte mit den Lippen, wenn sie von dem Essen sprach, das sie sich so selten hatte erlauben können, und Sara kam es vor, als ernähre ihre Urgroßmutter sich tatsächlich von Wörtern, manchmal stieg sogar der Geruch von goldbraun gebratener Hühnchenhaut oder Zimt und Vanille auf. Einmal war die hungrige Sara so auf die Ochsenzunge in der Erzählung der Uroma fixiert, dass sie fast die neue Wendung im Schicksal der schwarzen Venus verpasst hätte, von der man nichts Neues mehr erwartete als ihren Tod. Venus hatte ein Kind mit dem König von Frankreich, sagte die Uroma und schaute die Urenkelin aus ihren im Alter milchig trüb gewordenen Augen groß an, Napoleon hieß er, und er liebte sie mehr als jede andere Frau auf der Welt, doch zugegebenermaßen war er leider ein verheirateter Mann.
Kurz nach dieser verblüffenden Eröffnung starb Destinee im Schlaf, und außer dem Duft von Süßkartoffeln mit Vanille und Zimt, der letzten Speise, von der sie zu Lebzeiten gesprochen hatte, hinterließ sie eine Holzkiste mit ärmlichen Habseligkeiten: ein paar Kleider, drei Paar Schuhe, eine Bibel, die sie nicht hatte lesen können, weil sie es nie gelernt hatte, aber immer mit in die Kirche nahm, und in der Bibel, zwischen Psalm sieben und acht, ein Flugblatt von der Größe einer Schulheftseite, einmal quer gefaltet. Auf diesem Flugblatt war eine schwarze Frau abgebildet, die seitlich zum Betrachter, diesem aber mit dem Gesicht leicht zugewandt stand. In dieser Haltung war ihr Schoß verdeckt, doch ihre beiden nackten Brüste waren sichtbar, die rund und voll waren wie zwei Melonenhälften. Um Hals und Taille der Frau waren Perlenketten geschlungen, ebensolche Ketten schmückten die Beine oberhalb der Knie, während sie an den Füßen seltsame Schuhe trug, die an Männermokassins erinnerten. In der rechten Hand hielt sie einen langen Stab, der schmale zarte Arm streckte sich nach vorn, als suche er Halt, damit der Körper im Gleichgewicht blieb. Über der linken Schulter trug sie ein zusammengelegtes Stück Stoff, vielleicht auch eine Tierhaut, die in den mit bläulichen Stockflecken übersäten Hintergrund verfließt. Ein Teil des Gesichts der Schwarzen ist von einer Maske verdeckt, vielleicht ist es auch eine Bemalung, das lässt sich anhand des verblassten Bildes nicht mit Genauigkeit sagen. Ihr Mund ist voll und fast rund wie ein
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