Wolkenfern (German Edition)
Düfte exotischer Basare, von denen sie einmal gelesen hatte, und der Geruch von Verbranntem, alles fließt ineinander.
Das Epizentrum der weißen Explosionen ist Dominikas Kopf, genauer gesagt die rechte Seite ihres Kopfes. Dort nehmen die Schmerzwellen ihren Anfang, laufen allmählich abebbend aus in ihren Fingerspitzen, die im Rhythmus der inneren Explosionen leicht zittern. Seitdem Dominika schwerverletzt neben dem brennenden Auto gefunden wurde, hat sie weder die Augen geöffnet noch ein Wort gesprochen. Sie schlief im Krankenhaus von Wałbrzych, und sie schlief auf der Reise in die deutsche Klinik, wohin sie mit Hilfe von Grażynka und deren deutschem Mann gebracht wurde. Sie schlief sogar im Hubschrauber! Auch hier schläft sie jetzt, Koma, sagen die Ärzte, und dieses Wort erschreckt Jadzia, die achtzehn Jahre lang an ihr spinnert-spleeniges Kind gewöhnt gewesen ist, mutwillig und wirbelig wie ein Brummkreisel. Wach auf!, bittet Jadzia verzweifelt, wach auf!, singt sie. Seit einiger Zeit, die sich da, wo Dominika ist, nicht messen lässt, tauchen undefinierbare Dinge aus dem Weiß auf, farblos, unzählbar und vibrierend. Vielleicht liegt es an ihrer rastlosen, mit Worten vollgestopften Mutter, die an ihrem Bett wacht, dass diese Dinge in Dominikas Schlaf Eingang finden. Diese Bröckchen Welt sind weiß wie die Füße der Muttergottes am Sonntag, wie Mehl aus der Mühle von Urgroßvater Adam, die kleinen Partikel tanzen im Licht, das durch die Sparren fällt, und Dominika will die Hand danach ausstrecken, doch die Hand ist schwer wie ein Stein. Sie sind weiß wie die Orangenblüten im Wałbrzycher Palmenhaus, wie die Baisers, die Jadzia ihrer Tochter in der Küche auf Piaskowa Góra gebacken hat, Dominika spürt fast den Geschmack auf der Zunge, und ihr läuft das Wasser im Mund zusammen. Weiße Baisers und der Puderzucker, mit dem das gewürfelte Rachatlukum bestreut ist, die Süße von Brot mit Sahne; Dominika erinnert sich an die Hände von Oma Kolomotive, die sie an einem weißen Tisch mit Sahnebrot gefüttert hat. Die weißen Zähne des griechischen Jungen, der in eine süße Waffel beißt, lächelt und läuft, läuft, läuft, wobei ihm der Tornister auf dem Rücken hüpft. Dominika versucht, sein Lächeln zu erwidern, doch da ist Asche neben ihr, weiße Knochen, ihr Lächeln schneidet durch Eis. Dominika sieht weiße Treppenstufen, die zum Meer hinabführen, und will immer schneller und schneller über die Stufen hinunterlaufen, nur weg von Tod und Vernichtung, doch das Bild platzt wie eine Seifenblase, bevor sie ans Wasser gelangt. Stattdessen tauchen die weißen Zöpfchen der seit Jahren verschwundenen Tante Basienka auf, die immer ein Lied vom Mädchen süß wie Himbeer und Honig vor sich hin sang; der Geruch von verbranntem Fleisch. Plötzlich sieht Dominika die Asche des Zalesier Hauses ihrer Großmutter Zofia, Schnee fällt darauf, im Wind bewegen sich froststeife Bettlaken und schlagen aneinander wie Knochen. Wieder spürt Dominika einen angenehmen Geruch und einen vertrauten schrecklichen Geruch, jemand singt Vor meinem Fenster stand die Zigeunerin, jemand ruft ihren Namen, als schrie er aus vollem Hals in einen Brunnen: Dominika!
Die Strömung trägt sie nach oben, dorthin, wo die Stimme ist. Dominika spürt etwas, das fast Bewegung und Leben ist; Eins, flüstert sie oder träumt, dass sie es flüstert. Direkt über ihr ist nur noch eine dünne Schicht Eis oder Spiegelglas, die sie bloß zu zertrümmern braucht, um zu wissen, wem diese Stimme gehört, und auf eins folgt dann zwei, drei, die Welt. Dominika steckt ihre ganze Kraft in diese Eins, die der erste Dominostein sein soll, genau am Anfang, denn es gibt nichts Schöneres als die Ordnung der Zahlen. Die Stimme lockt und ruft sie immer weiter, jetzt weiß sie, dass die Stimme schön ist, sie will die Hände danach ausstrecken, aber da verlassen sie ihre Kräfte, sie spürt, dass sie es nicht schafft, diesmal nicht; sie sinkt zurück in Dunkel, Starrheit und Stille. Durch ihre Fingerspitzen läuft wieder ein Zittern, das nur ihre Mutter Jadzia sieht, aber ihr glaubt niemand, denn die Bewegung ist nur ganz kurz, im Nu ist sie vorüber, und die Finger, die schon Farbe bekommen hatten, sind wieder weiß.
Ich habe mich nicht getäuscht! Jadzia stärkt sich selbst im Glauben und schreit die Krankenschwester auf Polnisch an. Jedes einzelne Wort spricht sie ganz klar und überbetont aus, als könnte das helfen, als würden dadurch die Worte
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