Wolkenfern (German Edition)
Handschuhe ließ sie sich nicht aus dem Haus bewegen, auch nicht im Puppenwagen, sonst fing sie an zu fluchen, dass einem Hören und Sehen verging. Saras Urgroßmutter hatte Hände, die schon genug erlitten hatten, bevor Destinee zwanzig war: Zuerst verhärteten sich die Handteller von der Arbeit auf der Zuckerrohrplantage bei Louisiana, dann die rosigen Markierungen auf ihren Handrücken, die sie sich beim Kochen und Bügeln zuzog, nachdem sie von der Feldarbeit der Hausarbeit zugeteilt worden war, und schließlich die verstümmelten zwei Finger der linken Hand, die der Hund ihr beibrachte, den man spaßeshalber auf sie gehetzt hatte. Von klein an hatte Sara eine Vorliebe dafür, sich mit zuwendungsbedürftigen Geschöpfen zu beschäftigen, und so zog sie der Urgroßmutter Handschuhe über und fuhr sie im Puppenwagen herum, in dem die Urgroßmutter unter einer geblümten Decke lag. Zu Mittag fütterte sie sie mit kleinen Stücken Toast mit Erdnussbutter, die sie zuvor durchkaute, so wie sie es bei den Müttern im Park von Bed-Stuy beobachtet hatte. Uroma Destinee wohnte bei einer ihrer Töchter, der tauben Tante mit ihrem ewig erstaunten Gesichtsausdruck, und vielleicht lag es an diesem Mangel an Kontakt mit ihrer Mitbewohnerin, die, egal was man zu ihr sagte, immer schaute wie ein im Licht von Autoscheinwerfern gebanntes Kaninchen, dass sie sich mit unentwegtem Geplapper belohnte, wenn ihre Urgroßenkelin sie spazieren fuhr. Uroma Destinee hatte gelbe Augen und eine Geschichte, die sie ihr Leben lang erzählt hatte: zuerst den Kindern bei den sonntäglichen Abendmahlzeiten, wenn sie ihnen Süßkartoffeln mit Vanille und Zimt röstete oder bei besonders guter Laune die Ochsenzunge vom Mittagessen aufwärmte, und später den Enkeln und Urenkeln. Als das Alter Destinee auf den Umfang eines Kürbis schrumpfen ließ und ihr die Kräfte raubte, gewann die Geschichte an Kraft, und die dauernde Wiederholung machte sie gleichsam hart und glatt. Sara wurde sie in ihrer vollendeten Form zuteil: pflückreif, saftig und prall.
Die Heldin dieser Erzählung war Destinees Großmutter, eine Schauspielerin aus Europa, aus Paris, so schön, dass ihr es euch nicht vorstellen könnt, man nannte sie Venus. Ihr wisst nicht, wer Venus ist? Eine Göttin, ihr Dummbeutel, ihr Schwachköpfe, ihr Kretins mit einem Stück Mäusescheiße anstatt eines Hirns! Venus, das ist eine Göttin aus Europa, und nach ihr war meine Oma benannt. Sie trat in London auf, in Paris, in Moskau sogar, denn der russische König persönlich schickte ihr Briefe und Geschenke, bis sie es ihm einfach nicht abschlagen konnte, erklärte Destinee. Herrliches Haar hatte sie, als käme sie geradewegs vom Friseur, die Haut wohl schwarz, aber auch irgendwie weiß, glatt und zart wie ein Katzenbauch. Und was für Kleider hatte Venus! Ganze Schränke voll mit Handschuhen! Für jeden Tag der Woche ein anderes Paar, und dank ihnen machte sie sich nie die Hände kaputt. Scharlachrote Handschuhe, indigoblaue, safrangelbe. Goldbraune, wie die Haut von gebratenem Hühnchen. Aus Wildleder, aus getigertem Leopardenfell, aus Seide, aus Samt, aus Spitze, aus Shetlandwolle und ägyptischer Baumwolle, aus handgemachtem Goldbrokat. Mit Blumen bemalt, ganze Landschaften waren auf den Handschuhen dargestellt, die sich bewegten, als wären sie lebendig, wenn sie die Finger bog. Und Hände hatte Venus, die waren zart wie ein Babypopo, hochglanzpolierte Fingernägelchen wie bei einer Puppe, rosig und ohne ein Stäubchen, so sauber, erzählte Destinee hingerissen und ließ Sara ihre Hände zum Vergleich zeigen. Und wie Venus tanzte! Die besten Pariser Schneider nähten ihr die Tanzgewänder. Sie trat auf den Bühnen auf, kannte Könige, empfing alle möglichen Napoleone, erzählte Destinee ihrer Urenkelin Sara, so wie sie es Jahrzehnte zuvor ihren Kindern erzählt hatte und dann den Enkelkindern und überhaupt jedem, der es hören wollte oder sie zumindest nicht unterbrach. Handschuhe! Immer raffiniertere Formen nahmen sie in Destinees Erzählung an, sie bekamen merkwürdig moderne Muster, metalldurchwirkt, wie die Handschuhe der glücklichen Besitzer von Motorrädern in Bed-Stuy, aus Kunstseide und sogar einfache Gummihandschuhe für die Küche, wie man sie für ein paar Cent bei Icek Kac im American Values bekam. Eine im Alltag praktische und realistische Frau, die nicht viel Gelegenheit zu Höhenflügen gehabt hatte, weil sie viel zu beschäftigt damit war, zu überleben und ihre Kinder am
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