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Wolkenfern (German Edition)

Wolkenfern (German Edition)

Titel: Wolkenfern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanna Bator
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Tanzen in der Gorzkowicer Scheune zur Napoleonhütte heimkommt und von den Teetanten keine Spur mehr da ist, nur noch der Duft von Lavendel und ein paar himmelblaue Tropfen Likör im Glas, und dass das Leben aber danach einfach weitergeht, dass man weiter tanzen, lieben, sich den süßen Saft von den Fingern lecken will. An sie, an die Teetanten, dachte sie jedes Mal, wenn Männer sie verließen oder wenn sie sich selbst im Morgengrauen davonstahl, um nie wiederzukommen, wenn sie sich von ihren nicht sehr zahlreichen Freundinnen verabschiedete.
    Sie braucht Liebe und nicht Fürsorge, sagte Grażynka zu Sara, als sie auf demselben Autobusbahnhof Abschied nahmen, von dem einige Monate zuvor die verzweifelte Jadzia Chmura nach Polen zurückgefahren war. Grażynka wusste, dass sie Sara eigentlich nichts zu erklären brauchte, und die Worte waren nur dazu da, um die Tränen zu unterdrücken, denn Grażynka mochte keine Tränen und verschmierte Wimperntusche. Deshalb flüsterte sie Sara in das nach Patschuli duftende Ohr: Sie braucht Liebe, bemuttere sie unterwegs, denn sie hatte begriffen, dass Dominika immer noch zerbrechlich und leicht umzuwerfen war, obwohl sie schneller genesen war, als die Ärzte vorausgesagt hatten. Wenn die wirkliche Zeit so verflösse wie Grażynkas Lebenszeit, so ohne gestern und morgen, dann hätte sie dieses traurige stille Mädchen in Kamieńsk in ihr Haus geholt, in die Napoleonhütte, wo die Teetanten am alten Tisch saßen und Rosenkonfitüre in Gläser füllten. Dort hätte Dominika Obdach finden, zur Leierkastenmelodie tanzen, in der Kamionka Krebse fangen und mit Grażynka zur Hütte des Bahnwärters Barnaba Midziak gehen können, um zuzuhören, wie er sein Garn spann. Aber leider. So ist es eben, leider, sagte Grażynka, und als sie ihnen vom Abfahrtssteig winkte, war ihr Gesicht wieder friedlich und ruhig. Sie konnte Sara trauen, denn sie sah in ihr eine Schwester.
    Sara hatte ihre Kindheit in Brooklyn verbracht, im Stadtteil Bedford-Stuyvesant, kurz Bed-Stuy, in einem Haus aus braunen Ziegeln, das in einer Reihe anderer brauner Ziegelhäuser stand. Aufgezogen wurde sie von ihrer Großmutter, einer krittligen, starken und mutigen Frau, La-Teesha Jackson. Sie hatte Sara die starken großen Hände vererbt und einen herrlichen Hintern, der die Männer hypnotisierte, denn wenn sie ging, lag in der harmonischen Bewegung dieser beiden Halbkugeln ihres Gesäßes etwas Sanftes und Wildes zugleich, zumindest dachten das diejenigen, die mehr zu sagen imstande waren als »Was für ein Arsch!«. Als Sara zehn war, konnte sie jeden Schraubverschluss ohne die geringste Anstrengung öffnen, und als Fünfzehnjährige hatte sie etwas so Üppiges und Verschwenderisches an sich, dass sich jedes Kleinkind und jeder Mann in Bedford Stuyvesant an sie schmiegen wollte. Ihr Rumpf blieb schlank, die Taille schmal, doch die Hüften wölbten sich darunter auf wie ein Blumenkelch, eine von zartem Flaum bedeckte gigantische schwarze Tulpe. Saras üppiger Körper wurde erst dann ein Problem, wenn die Mehrheit der Frauen um sie herum weiß waren, was anfangs sehr selten vorkam, weil sie wie die meisten schwarzen Mädchen ihres Alters wenig Anlass hatte, ihren Stadtteil zu verlassen. Bed-Stuy war schwarz, und seine Bewohner hielten sich im Vergleich mit Harlemern für viel echtere und schwärzere Schwarze. Harlem ging ihrer Meinung nach allmählich vor die Hunde, während sich hier, in Bed-Stuy, ein unvergleichlich komplizierteres und schwierigeres Leben abspielte, das es verdiente, in Worten verewigt zu werden, die man an warmen Abenden um die Feuer in verlassenen Hinterhöfen sang.
    Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war Saras Urgroßmutter Destinee aus den Südstaaten hier heraufgekommen, um sich in Brooklyn anzusiedeln, wo sie fünfundfünfzig Jahre einen Trödelladen führte. Er stand eingezwängt zwischen einer Wäscherei und einer Pfandleihe; schon damals schien das Schicksal dieser Gegend besiegelt.
    Sara hatte ihre Urgroßmutter noch kennengelernt, halbblind war sie und von Arthritis verdreht wie ein Schabbesbrot aus der jüdischen Bäckerei. Am Ende ihres Lebens war sie so klein und leicht, dass man sie ohne weiteres in einen Puppenwagen betten und über die Straßen schieben konnte. Sara war fasziniert von der alten Frau und empfand auch Zärtlichkeit für sie. Auf ihre alten Tage hatte sie nur eine seltsame Laune, und zwar bestand sie darauf, unabhängig von der Jahreszeit Handschuhe zu tragen, ohne

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