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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anett Leunig
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seine Sachen wieder an sich nahm. Noch einmal schaute er zu uns zurück, lachte und zwinkerte uns aufmunternd zu – dann zog der Strom der anderen Passagiere ihn mit sich fort und aus unserem Blickfeld.
    Tante Melanie und ich blieben allein in der Abflughalle zurück. Schließlich seufzte sie und fragte: „Wollen wir noch auf die Terrasse gehen und uns den Start ansehen?“ Natürlich wollten wir das! Obwohl ich bezweifelte, dass Christoph uns aus der Maschine heraus würde sehen können. Ich sah zu, wie der große, schwere Vogel langsam anrollte und zur Startbahn manövriert wurde. Einen kurzen Augenblick lang verharrte er dort, und ich wünschte mir fast, der Kapitän würde die Starterlaubnis nicht bekommen. Doch schließlich heulten die Turbinen auf, die Maschine beschleunigte, wurde rasend schnell, hob endlich vom Boden ab und stieg in das leuchtende Blau des Himmels. Immer höher und höher kämpfte sie sich, flog irgendwo dort oben eine Schleife und drehte ab, kühl und silbern glänzend. Wie die Kette auf meiner Brust. Ich fühlte nach ihr. Ein winzig kleiner Anhänger war daran, den ich vorhin noch gar nicht bemerkt hatte. Ein „C“. Christoph.
     
    Schweigend fuhren wir nach Hause. Mein Zug würde erst übermorgen gehen, denn Tante Melanie hatte mich gebeten, noch ein bisschen zu bleiben, damit sie nicht gleich ganz so allein war.
    In der Küche kochte ich uns erst einmal einen Kaffee, während Tante Melanie sich im Bad frisch machte. Schließlich setzten wir uns einander gegenüber an den Tisch, jeder einen dampfenden Kaffeebecher in der Hand. Eigentlich ein viel zu heißes Getränk für die ohnehin schon drückende Sommerhitze, aber das merkten wir beide gar nicht.
    Schließlich brach Tante Melanie das Schweigen: „Ja, nun ist er weg. Und bald am anderen Ende der Welt. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich vor diesem Tag gefürchtet habe. Ich bin froh, dass du mit da warst, sonst hätte ich wahrscheinlich auf dem Flughafen eine Szene gemacht.“ Sie nippte an ihrem Kaffee. „Du verstehst das im Moment wahrscheinlich alles gar nicht und denkst bestimmt, ich bin eine überspannte Heulsuse.“
    Ich sah sie erschrocken an und schüttelte heftig den Kopf. Sie lächelte begütigend:
    „Nein, natürlich nicht, ich weiß schon. Aber vielleicht ist es jetzt an der Zeit, dass du ein bisschen mehr über unsere Familie erfährst. Die ganze Geschichte wissen nur Christoph, ich und deine Mutter.“ Mama? Ich war erstaunt, spürte aber, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, Tante Melanie zu unterbrechen.
    „Die Kette, die Christoph dir gegeben hat,“ – ich griff instinktiv an meinen Hals – „gehörte seinem Vater.“ Mein Erstaunen wuchs mit jedem Wort, das sie sagte. Jetzt kam der unbekannte Vater ins Spiel. Aber vielleicht war er ja gar nicht so unbekannt?
    „Ich habe sie von ihm bekommen, als er erfahren hatte, dass ich schwanger war. Das ‚C’ bedeutete ‚Christian’, sein Name, und damit das Baby mit seinem Vater verbunden war, habe ich es Christoph genannt.
    Christophs Vater gehörte zu einer Schaustellertruppe, die damals in jedem Jahr durch unseren Ort gezogen kam. Ich war neunzehn, als ich ihn das erste Mal bewusst wahrnahm. Ich hatte damals keinen Freund, war eigentlich noch völlig unbedarft, was die Liebe und solche Dinge betraf. Ich hatte mich sofort in ihn verliebt, in seine Augen natürlich. Er konnte den Menschen damit bis auf den Grund der Seele schauen. Das hat Christoph von ihm geerbt. Ich ging jeden Tag auf den Festplatz, um ihn zu sehen, und irgendwann sprach er mich endlich an. Es stellte sich heraus, dass er mich schon seit zwei Jahren beobachtet hatte, aber da war ich wohl noch nicht so weit gewesen, um das zu bemerken. Na ja, ich war in dieser Hinsicht eben ein Spätzünder.
    Jedenfalls kamen wir uns schnell näher. Es war, als wäre es Bestimmung gewesen. Ich konnte mich ihm nicht entziehen. Schließlich ließ ich mich auf ihn ein, du weißt schon, ich schlief mit ihm. Es war eine wunderschöne, laue Frühsommernacht, mild und würzig, nicht heiß und stickig. Christoph wurde unter freiem Himmel gezeugt, direkt unter den Sternen. Manchmal glaube ich, in seinen Augen schimmert das Sternenlicht jener Nacht.
    Als ich bemerkte, dass ich schwanger war, waren die Gaukler natürlich schon längst weitergezogen. Ich geriet in Panik. Meine Eltern – deine Großeltern – waren völlig von den Socken, wollten wissen, wer aus dem Ort der Vater war. Ich schämte mich sehr vor

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