Wolkengaukler
Christoph und ich waren zudem noch furchtbar müde. Die letzten Tage und Nächte hatten wir mehr als gut genutzt. In jeder freien Minute waren wir zusammen gewesen, hatten uns berührt, gestreichelt und geküsst, wo und wann immer es ging. In den Nächten hatten wir uns stundenlang und immer wieder geliebt, konnten nicht voneinander lassen und wussten doch, dass uns die Zeit durch die Finger rann wie Sand durch ein Uhrenglas. Früher oder später würde sie uns unerbittlich trennen.
Dieses Später war jetzt, am ersten August, elf Uhr, in der gleißenden Mittagssonne, mit knurrendem Magen und schmerzendem Herzen. Das Frühstück war heute sehr spärlich ausgefallen, weil keiner von uns einen Bissen herunterbekommen hatte. Christoph würde nachher im Flugzeug etwas zu Essen bekommen, und Tante Melanie und ich ... Aber wer wusste schon, was nachher sein würde, wenn alles wieder anders war.
So standen wir also hier in der Abflughalle, die Hände im Verborgenen fest ineinander verschränkt, stumm und traurig, während Tante Melanie noch rasch letzte Anweisungen und unnötige Tipps gab. Zum hundertsten Mal fragte sie Christoph nach seinem Pass und ob er auch die Kreditkarte dabei habe. Zum hundertsten Mal antwortete er ihr geduldig, und zum hundertsten Mal flog sein Blick zu der großen Anzeigetafel über den Abflugschaltern. Ich wünschte mir fast, dass sein Flug niemals dort erscheinen würde.
Aber dann hörte ich den Aufruf: „Passagiere des Fluges 8157 nach Frankfurt/Main, bitte zum Boarding-In.“
„Es geht los“, sagte Christoph und entzog mir vorsichtig seine Hand. Tante Melanie wurde erst blass und dann rot. Sie kämpfte mit den Tränen. Christoph nahm sie fest in seine Arme.
„Mach’s gut, mein Junge, pass auf dich auf, ja? Ruf kurz an, wenn du drüben bist. Hast du dein Handy? Ja? Schön! Und Christoph, hör mir gut zu“, ihre letzte, wohl wichtigste Anweisung sprach sie ihm direkt ins Gesicht, das sie mit beiden Händen festhielt, „sei vorsichtig und überlege immer gut, was du tust.“
Christoph ergriff ihre Hände, löste sie sanft von sich und küsste erst die eine, dann die andere Handfläche. „Ich hab dich lieb, Mama. Hab keine Angst um mich.“
„Ach Christoph ...“ Sie schluchzte auf, zog ihn noch einmal an sich und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann zwang sie sich, zurück zutreten. „So, jetzt könnt ihr euch verabschieden.“
Abschied. Ich fragte mich, wie das gehen sollte. Wie sagte man zu einem Menschen auf Wiedersehen, wenn man sich nicht sicher war, ob man ihn überhaupt noch einmal wiedersehen würde? Wie trennte man sich von einem Menschen, mit dem man mehr als nur die Tage geteilt hatte? Ich hatte keine Ahnung, nur einen beängstigend großen Kloß in meinem Hals.
Christoph wandte sich mir zu, und seine Diamantaugen drangen tief in mein Inneres. Dann griff er sich in den Nacken und zog eine silberne, hauchzarte Kette unter seinem T-Shirt hervor. Hatte er die schon immer getragen? Nein, das wäre mir doch aufgefallen! Vorsichtig legte er sie mir um den Hals, ließ den kleinen Verschluss in meinem Nacken wieder zuschnappen. Ich schaute ihn verunsichert an.
„Mein Glücksbringer“, flüsterte er. „Ich habe sie abgelegt, als Falk damals verschwand und ich dachte, mein Glück wäre mit ihm davongegangen. Aber ich habe erkannt, dass dem nicht so ist. Deshalb möchte ich, dass du sie jetzt für mich trägst.“
Ich wollte widersprechen, aber er legte mir den Finger auf die Lippen. „Das ist in Ordnung, ich möchte es so. Wenn du es dir anders überlegen solltest – du weißt schon, sechs Monate sind eine lange Zeit, und du wirst mit Sicherheit noch viele andere interessante Menschen treffen – dann schick die Kette zu meiner Mutter zurück. Du brauchst nichts zu erklären; nur die Kette, dann weiß ich Bescheid. – Und jetzt küss mich.“
Damit schloss er die Augen, und wir küssten uns ein letztes Mal. All die Liebe, Zärtlichkeit, Sehnsucht und Leidenschaft der letzten Wochen legte ich in diesen Kuss. Dass ich dabei mitten in einem gut gefüllten Flughafengebäude und meine Tante genau neben mir stand, war mir völlig egal.
Schließlich trennten wir uns, Christoph schulterte seinen Rucksack und marschierte mit einem letzten „Tschau!“ zur Absperrung. Ich beobachtete ihn, wie er seinen Pass vorzeigte, seine Tasche, seine Uhr und seine Jacke in den Plastikkorb zur Kontrolle legte, sich selbst mit dem Metalldetektor abtasten ließ und auf der anderen Seite
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