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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anett Leunig
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saß da wie vom Donner gerührt.
    Was für eine Geschichte! Was für ein Drama!
    Da lebte ich siebzehn Jahre lang mein Leben still und geordnet vor mich hin, machte mir Gedanken darüber, wie ich ein Mädchen küssen sollte, während mein Cousin regelrecht entzweigerissen wurde zwischen zwei Welten, zu denen er scheinbar gleichzeitig und doch wieder gar nicht zu gehören schien. Warum war mir das alles nicht schon früher aufgefallen? Warum hatte ich zum Beispiel nie nach meinem Onkel gefragt?
    Offenbar war der Mantel des Schweigens so lückenlos und dicht wie teures Leinen gewebt gewesen. Nicht ein einziger verräterischer Lichtschein war zu meinem Bewusstsein durchgedrungen. Außerdem war ich bisher zu jung gewesen, um weiter als bis morgen oder zum nächsten Wochenende zu denken. Und schließlich war ich ja bekanntlich von meinen eigenen Problemen überrannt worden. Aber ausgerechnet die hatten mir dann die Gelegenheit gegeben, ein Loch in das Leinen zu bohren, das plötzlich auftrudelte wie das Muster eines Strickpullovers, wenn man versehentlich eine Masche hatte fallen lassen.
    Noch eine Frage drängte sich mir auf: War Christoph deshalb in sexueller Hinsicht auf Männer fixiert, weil ihm sein Leben lang der Vater gefehlt hatte? Aber das konnte nicht sein, denn ich fühlte dasselbe wie er, und ich war mit einem Vater aufgewachsen. Oder nicht? Ich war völlig durcheinander. Aber eines musste ich noch wissen: „Darf ich dich noch etwas fragen?“
    „Ja, natürlich.“  Tante Melanie kam zurück an den Tisch.
    „Warum hast du keinen anderen Mann geheiratet? Ich meine, gab es keinen?“ Eine sehr direkte Frage, aber wir waren nun einmal beim Thema. Sie lächelte ein bisschen wehmütig.
    „Sicher habe ich später den einen oder anderen Mann kennen gelernt. Aber als ich ihnen eröffnete, nicht allein, sondern bereits Mutter zu sein, haben sie sich wieder verkrümelt. Ich glaube, das ist ein Naturgesetz: nur die eigenen Gene werden geschützt, nur an eigenen Nachkommen ist man interessiert. Fremdes wird kaum geduldet, selten anerkannt. Vielleicht ist das in den heutigen Generationen anders, ich weiß nicht. Damals war das ziemlich hart. Aber um ehrlich zu sein: Christians Augen konnte sowieso keiner Konkurrenz machen.“ Das konnte ich mir gut vorstellen.
    Schließlich setzte sich Tante Melanie noch einmal zu mir, nahm meine Hände in ihre und sah mich liebevoll an: „Ich weiß, dass das alles für dich sehr viel und schwierig ist, und es tut mir leid, dass ich dich damit gerade heute überfalle. Wichtig ist mir, dass du deiner Mutter keinesfalls für irgendetwas die Schuld gibst, ja?“
    Ich nickte. Das war mir schon klar. Sie wollte noch etwas sagen, wusste aber nicht so richtig, wie. Schließlich fuhr sie fort:
    „Christoph hat bisher mit keinem Wort die Zeit nach seiner Rückkehr erwähnt, die Pläne, die er für die Zeit danach hat. Ein Rückflugticket hat er jedenfalls bis heute noch nicht gebucht. Ich war mir deshalb lange Zeit nicht sicher, ob er überhaupt darüber nachgedacht hatte, zurückzukommen. Bis vor drei Wochen, als ich merkte, dass das mit euch beiden losging.
    Ich war erst ein bisschen erschrocken und skeptisch, aber dann habe ich gesehen, wie gut du ihm tust. Du hast ihm über Falk hinweggeholfen – etwas, das ich nie geschafft hätte. Ich habe Angst, dich damit unter Druck zu setzen, denn natürlich hast du immer die Freiheit, selbst zu wählen, aber ich möchte es dir trotzdem sagen: wenn Christoph zurückkommt, dann nur zu dir und für dich. Nicht für mich oder sonst jemanden, sondern ganz allein für dich. Ich wollte nur, dass du das weißt.“ Damit ließ sie mich los, stand auf und ging hinaus auf die Terrasse.
     Ich fühlte mich wie erschlagen. Für heute war es genug, das musste ich jetzt erst einmal alles verdauen. Ich rief Tante Melanie ein lautes ‚Gute Nacht’ zu und ging hinauf in mein Zimmer – in Christophs Zimmer. Ich legte mich aufs Bett und dachte über all das Gehörte nach.
    Was für eine verrückte Geschichte! Und ich hätte sie niemals erfahren, wenn meine Mutter nicht diese spontane Idee gehabt hätte, mich über die Ferien hierher zu schicken. Wenn ich nicht solch ein miserables Zeugnis gehabt hätte. Wenn nicht die Sache mit Isabel und Felix gewesen wäre – oh Gott, wie lange war das jetzt schon her? Ein halbes Leben, so schien es mir.
    Der Flügelschlag eines Schmetterlings in China kann in New York einen Wolkenkratzer zum Einsturz bringen. Über diesen

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