Wolkengaukler
Gedanken schlief ich, völlig erschöpft, wie ich war, ein.
CELINE
I
Flugzeug, Bahn, Auto – die Motoren der modernen Zeit arbeiten kräftig, schnell und zuverlässig. Binnen Bruchteilen von Augenblicken bringen sie einen vom Anfang zum Ende einer Reise und auch wieder zurück, so dass man glaubt, erst gar nicht losgefahren zu sein.
Jedenfalls ging es mir so, als ich zwei Tage später wieder auf dem Bahnhof in Braunschweig stand, dieses Mal von meiner Mutter abgeholt wurde, und eigentlich mit Herz und Seele noch in München in Christophs Zimmer auf seinem Bett lag. In seinem Bett mit ihm, daran wagte ich nicht mehr zu denken. Da war irgendwie ein tiefer Schmerz, auch Angst und eine seltsame Leere in mir. Daran wollte ich nicht rühren. Vorerst nicht.
Außerdem warteten eine Menge neuer Herausforderungen auf mich, und ich brannte darauf, sie endlich anpacken und sehen zu können, ob ich sie bewältigen konnte. Der Schlachtplan, den Christoph und ich im Sommer ausgearbeitet hatten, sollte jetzt Schritt für Schritt in die Tat umgesetzt werden.
Drei Tage vor Schulbeginn suchte ich meine Klassenlehrerin auf und besprach mit ihr meinen Stundenplan. Ich wollte einige Kurse wechseln: für mein geplantes Literaturstudium brauchte ich keinen Mathe-Leistungskurs, sondern eher Deutsch und Englisch. Sozialkunde und Geschichte waren wichtiger als Chemie. Sie half mir bei der Koordination der Kurse, und schließlich war mein Stundenplan komplett umgestellt. Der erste Schritt war getan, und ich war damit zufrieden. Christoph auch.
Wir hatten abgesprochen, über E-Mail Kontakt zu halten und uns einen privaten Chatroom eingerichtet, in dem wir uns jederzeit zu einem Treffen verabreden und direkt austauschen konnten. Telefonieren war zu teuer, aufgrund der Zeitverschiebung auch schwierig und auf die Dauer sowieso auffällig. Ich vermisste seine Stimme, aber ich war froh, dass ich wenigstens am PC unbeobachtet mit ihm ‚quatschen’ konnte.
Ich schickte ihm per Mail die Resultate meiner Aufsätze, fragte ihn über Stochastik und Kurvendiskussionen aus oder erläuterte ihm den Zitronensäurezyklus, um ihn selbst besser zu verstehen. Für ersteres bekam ich immer ein dickes Lob und hinsichtlich mathematischer Fragen natürlich umfang-reichste Ausführungen. Nur was Biologie oder Chemie anging, da schickte er mir jedes Mal ein kopfschüttelndes und schulterzuckendes Smily.
Er sandte mir dafür Fotos seiner Projekte und Studienobjekte sowie Kopien seiner Entwürfe zu, die ich kritisieren sollte. Ich hatte natürlich keine Ahnung von Architektur, entschied daher meistens einfach aus dem Bauch heraus, ob und warum ich etwas gut fand oder nicht. Hin und wieder traf ich damit allerdings ins Schwarze, und Christoph musste sich nach manch heftiger Debatte geschlagen geben. Kurz gesagt: Christoph war über alles, was bei mir in den folgenden Wochen und Monaten geschah, im Bilde, und umgekehrt genauso.
Dagegen wusste mein Vater noch nichts von meinen revolutionären Plänen, und so sollte es vorerst auch bleiben, bis ich ihm die ersten positiven Ergebnisse – insbesondere ein gutes Halbjahreszeugnis – würde präsentieren können.
Das neue Schuljahr begann grau und voller Regen. Unangenehm – aber mit den Ferien schien sich auch der Sommer mit einem Schlag verabschiedet zu haben. Heute war allerdings auch der Tag, an dem ich Felix zum ersten Mal wieder gegenübertreten würde. Auch das bereitete mir etwas Unbehagen.
Er hatte auf unserem Anrufbeantworter zu Hause mehrere Nachrichten hinterlassen, die alle unbeantwortet geblieben waren. Es war ja die ganzen sechs Wochen über keiner da gewesen. Und wo ich gewesen war, wusste er ja nicht. Das war auch gut so. Ich hatte ein bisschen Angst vor dem Wiedersehen, aber andererseits: was sollte mir schon groß passieren? Im schlimmsten Fall würde er mich ignorieren, und ich würde mir für die Unterrichtsstunden einen anderen Banknachbar suchen müssen.
Während ich noch diesen Gedanken nachhing, hörte ich ihn plötzlich hinter mir meinen Namen rufen: „Jann?! Jann, warte mal!“ Schnaufend kam Felix herangesprintet. Er war über den Sommer ein ganzes Stück gewachsen, war jetzt sogar einen halben Kopf größer als ich; trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, dass er mich von oben herab anschaute. Ganz im Gegenteil, er kam mir irgendwie kleinlaut und schuldbewusst vor. Er hielt auch nicht lange hinter dem Berg, sondern redete gleich drauflos, ohne Punkt
Weitere Kostenlose Bücher