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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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öffnete. Da sie in ihrem »Partisanenkrieg« gegen die Behörden von Ort zu Ort zogen, das Land per Zug mal in die eine, mal in die andere Richtung durchquerten, erlebten sie unmittelbar, wie Stadt und Land sich veränderten und wie die Kluft zwischen Arm und Reich größer wurde. Niemand durchschaute den Wirtschaftsboom so gut wie sie, niemand kannte sich so gut wie sie mit juristischen Schlupflöchern oder mit der Korruption der Provinzregierungen aus, und dadurch war es diesen bäuerlichen »Partisanen« überhaupt erst möglich zu existieren.
    Meine erste persönliche Begegnung mit ihnen hatte ich auf einer Zugfahrt von Zhengzhou nach Chengdu. Wir waren auf der Longhai-Linie unterwegs, der nördlichsten der drei Ost-West-Strecken. (Die Longhai-Linie hat eine Gesamtlänge von 1736  km und verläuft von Lianyungang im Osten nach Lanzhou im Nordwesten.) Das chinesische Schienennetz wurde in den 1950 ern ausgebaut und hatte anfänglich drei Ost-West-Routen und drei Nord-Süd-Routen. Inzwischen verfügt es über zwei weitere Nord-Süd-Strecken. In den 1980 ern zeugte das wahnsinnige Gedränge von Reisenden, die versuchten, in einem Zug einen Platz zu ergattern, von den Unzulänglichkeiten des Bahnsystems. Journalisten wie ich hatten gewisse Reiseprivilegien und wurden von den anderen Fahrgästen als »fette Katzen« bezeichnet, doch im armen und rückständigen China waren Dienstreisen trotz solcher Privilegien stets eine furchtbar unbequeme Angelegenheit, sozusagen eine »ausländische« oder »Ozean«-Strafe. (Dienst- oder Geschäftsreisen galten als etwas, das typisch für Ausländer war, und da die meisten von ihnen über den Pazifischen Ozean nach China kamen, wurde das Schriftzeichen
yang,
das »Ozean« bedeutet, auf Menschen oder Dinge übertragen, die aus dem Ausland nach China kamen, und stand schließlich schlicht für »ausländisch«.)
    Die Züge boten nur sehr wenige Schlafmöglichkeiten, und um eine Koje in einem Vierbettabteil der Soft-Sleeper-Klasse zu ergattern, musste man schon Rang und Namen haben. Wer nicht mindestens Armeeoberst oder Bürgermeister einer Großstadt war, ging leer aus. Provinzkader aus Bezirksstädten oder kleineren Ortschaften waren zu unwichtig, um sich Hoffnungen auf ein Soft-Sleeper-Abteil machen zu können. Wenn sie Glück hatten, konnten sie sich ein Hard-Sleeper-Bett organisieren. Hard Sleeper waren erst im Zuge der Reformen neu eingeführt worden. (Ähnlich wie die alten
Couchettes
in französischen Zügen hatten sie sechs harte Kojen pro Abteil, je drei übereinander auf jeder Seite, aber keine Tür.)
    Wir drei Journalisten, die wir an jenem Tag im Zug saßen, waren von drei verschiedenen Pressestellen, und wir wollten nach Chengdu, um über eine nationale Wirtschaftskonferenz zu berichten. Wir hatten für die lange Fahrt nur Sitzplätze bekommen – unser Status reichte nicht mal aus, um uns ein Plätzchen in einem Hard-Sleeper-Abteil zu sichern. Das Bahnpersonal, das Hard-Sleeper-Fahrkarten verkaufte, war extrem arrogant, und rückblickend denke ich, dass die Mitarbeiter vermutlich zu den ersten öffentlichen Bediensteten zählten, die mit Beginn der Reformen begriffen, dass sie ihre Position ausnutzen konnten, um sich finanzielle Vorteile zu verschaffen. Zugegeben, auch viele Journalisten haben die ihnen gewährten Privilegien ausgenutzt, um ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen, sonst hätten sie vielleicht der galoppierenden Korruption im heutigen China frühzeitig Widerstand entgegengesetzt.
    Wir stiegen in den Zug und suchten uns unsere Plätze. Der vierte Platz blieb leer, bis ein Mann mittleren Alters hereinkam und sich setzte. Er trug einen verblichenen alten Tarnanzug der Armee und war höflich und unaufdringlich. Er hatte keinen Koffer dabei, nur eine billige Plastiktasche, die anscheinend jenen Proviant enthielt, den die meisten Chinesen auf langen Reisen mitnehmen: Fladenbrot, Essiggurken und gekochte Eier. Ansonsten hatte er nichts bei sich, das irgendeinen Hinweis auf seine Arbeit oder Herkunft geliefert hätte.
    Es ist eine Berufskrankheit von Journalisten, Fragen zu stellen. Meiner Meinung nach sind die Chancen, in dieser weiten Welt mit ihrer Milliardenbevölkerung irgendwann neben einer ganz bestimmten Person zu sitzen, so verschwindend gering, dass jede Zufallsbegegnung im Grunde schicksalsgegeben sein muss. Eine lange Reise ist eine großartige Gelegenheit, seine Mitreisenden kennenzulernen, und ich bin schon immer unendlich neugierig gewesen.

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