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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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Aber nicht ich stellte die erste Frage, sondern einer meiner Kollegen.
    »Guten Abend. Wohin fahren Sie denn?«, fragte er höflich.
    »Guten Abend«, erwiderte der Mann. »Reisen Sie alle drei zusammen? Sie sehen aus wie leitende Kader.« Das war eine forsche Gesprächseröffnung.
    »Nein, nein. Wir sind Journalisten und arbeiten für einen Radiosender, einen Fernsehsender und für eine Zeitung. Und Sie?«
    »Dann sind Sie also alle bei den Nachrichten. Wie ungewöhnlich. Ich hab ehrlich Hochachtung für Menschen, die die Nachrichten machen. Sie zeigen uns Übrigen, wohin sich die Dinge entwickeln, Sie leben jeden Tag mit neuen Nachrichten. Was für eine faszinierende Arbeit! Und wohin fahren Sie alle?« Ich fand, dass er sich fast wie ein Journalist anhörte.
    »Nach Chengdu, um über eine Konferenz zu berichten. Und Sie? Sie hören sich an, als kämen Sie aus dem Süden.«
    »Chengdu, ja? Sehr angenehme Stadt, schöne Gegend. Da kann man prima einkaufen. Und was die Frauen dort angeht, die sind schlauer als die Männer.«
    »Tatsächlich? Wir zwei sind noch nie da gewesen. Xinran hier schon. Das klingt, als wären Sie häufig dort.«
    »Nein, eigentlich nicht, nur einmal. Aber ich hab so einiges über die Stadt gelernt, zum Beispiel die
Achtzehn Wunder von Chengdu.
«
    »Und die wären?«
    »Ich werde sie Ihnen verraten. Obwohl, die wechseln im Laufe der Zeit.« Und dann fing er an, sie aufzuzählen:
    Die Menschen in Chengdu werden krank, wenn sie nicht jeden Tag ins Teehaus gehen.
Die schlauen Frauen von Chengdu sind bezaubernd.
Die Männer von Chengdu lieben die schönen Frauen, die ihnen ständig in den Ohren liegen.
In Chengdu essen sie zu jeder Mahlzeit eingelegtes Gemüse.
Die Verkäufer von Spielersnacks preisen jede Nacht lauthals ihre Waren an.
An jeder Straßenecke wird Mahjong gespielt.
Wenn eine Maus stirbt, versammeln sich alle und gaffen.
Sobald die Sonne rauskommt, nehmen alle sofort ein Sonnenbad.
Keiner kann besser tratschen und angeben als die Menschen in Chengdu.
In Chengdu bekommen Gäste eine Fuß- oder Kopfmassage.
Tagediebe führen ein sorgenfreies Leben.
Sogar erfolgreiche Geschäftsleute gehen gern in schmuddelige Lokale.
Die Leute bauen an jeder Straßenecke ihre Schachspiele auf.
Die jungen Fräuleins von Chengdu werden zu jungen Damen.
Alle Frauen tragen Lederschuhe.
Je mehr Zeitungen es gibt, desto besser verkaufen sie sich.
Fahrräder werden mit Schirmhalter verkauft.
Mit dem Fahrrad kommt man schneller zur Arbeit als mit dem Bus.
    Und dann redete er munter weiter: »Bohnen aus dem Bezirk Pi, Pi-Tong-Schnaps, Stickereien aus Sichuan, Knoblauch, Chuan-Xiong-Kräuterarzneien, Ginseng vom Yunding, Da-Hong-Pao-Sichuanpfeffer, Blutorangen und Mandarinen, pelzige Orangen, Schweinewürste, Chilischoten, Schneebirnen, Navelorangen, Gelbfische … Für all diese Dinge ist Chengdu berühmt.« Jetzt klang er wie ein Werbespot der Fremdenverkehrsbehörde von Chengdu, wenngleich praktisch jede Region Chinas eine Liste mit »Wundern« hat und diese sich ständig ändern. (Zu den
Wundern von Chengdu
siehe auch Anhang D.)
    Unser Mitreisender war offensichtlich nicht dumm. Wir staunten, wie geschickt er bei aller Gesprächigkeit unseren Fragen auswich und die Unterhaltung immer wieder von sich selbst weglenkte. Was mochte er von Beruf sein? Seinen Äußerungen nach zu schließen, war er schon ziemlich viel herumgekommen. Er wirkte nicht wie jemand vom Land, der einen Tarnanzug trug, weil er sich schick darin fand, aber mit seinem wettergegerbten Gesicht und dem Schweißgeruch, den er verströmte, konnte er auch kein Arbeiter aus der Stadt sein. Meine Neugier war geweckt, und während des ersten Teils der Zugfahrt versuchte ich immer wieder herauszubekommen, woher dieser Mann denn nun kam.
    Wir waren am Abend abgefahren, und bald darauf ebbten der Lärm und das Stimmengewirr unserer Mitreisenden ab. Als es im Abteil still wurde, lehnten sich meine Kollegen gegen die Fensterscheiben und nickten ein. Ich dagegen hatte schon seit vielen Jahren Rückenprobleme, die durch die harten Sitze im Zug noch verstärkt wurden. Daher rutschte ich ständig hin und her, um mir Linderung zu verschaffen. Der Mann gegenüber bekam mein Unbehagen offensichtlich mit und hielt, ohne dass ich ihn darum gebeten hätte, die Beine angezogen, damit ich mehr Platz hatte.
    Nach etwa einer Stunde stand er auf. Ich dachte, er wollte zur Toilette, doch zu meinem Erstaunen ging er in die andere Richtung. Verwundert sah ich ihm nach,

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