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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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Ort zu Ort ziehen, schimpfen sie vor sich hin und streiten miteinander. Der Sketch propagierte die Haltung der Regierung, indem er die Schwierigkeiten darstellte, die durch »Zusatzkinder« entstehen, aber er zeigte auch, wie schwer das Leben dieser heimatlosen Bevölkerung war.
    Danach setzte sich in den Medien die Bezeichnung »Zusatzkind-Partisanen« für Paare durch, die das Weite suchten und oftmals mit dem Zug, falls sie es sich leisten konnten, durch China fuhren oder gar ins Ausland reisten, damit die Frau fernab von ihrem eingetragenen Wohnsitz schwanger werden und gebären konnte. Ich stieß auf Geschichten, die bewiesen, dass diese Menschen schneller umherzogen und zäher kämpften als die Soldaten der kommunistischen Roten Armee auf dem Langen Marsch, mit dem sie sich der Umklammerung durch die nationalistischen Kuomintang-Truppen entzogen.
    Ich bin sicher, dass jeder, der durch die Randgebiete der großen Städte kam, diese »Partisanen« sehen musste. Sie waren keine herkömmlichen Straßenbettler, tauchten nur selten in den Stadtzentren auf, und falls doch, dann jedenfalls nur kurz, weil dort die alten Damen, die die Nachbarschaftskomitees in jeder Straße und jedem Wohnblock leiteten, die Menschen genauestens beobachteten. Diese alten Frauen widmeten sich ihren sozialen Pflichten mit Hingabe – sie hatten seit ihrer revolutionären Jugend für »das Wohl des Volkes und den Ruhm des Landes« gekämpft und ließen sich durch nichts davon abbringen, genau so weiterzumachen. Sie waren schon vor Tagesanbruch auf den Beinen, trugen ihre roten Armbinden und kontrollierten jeden Winkel ihres Zuständigkeitsbereichs. Ihre Pflichten waren weit gespannt. Sie halfen der Polizei bei der Aufklärung von Mordfällen und Einbrüchen, sorgten dafür, dass Passanten ordentlich gekleidet und Fahrräder ordentlich abgestellt waren, und sie wiesen sogar Erwachsene zurecht, die zuließen, dass ihre Kinder kalte Snacks aßen. Kurz gesagt, es gab praktisch nichts, wofür diese alten Damen sich nicht zuständig fühlten.
    Vor den 1990 er Jahren hatte China ein höchst unzulängliches Rechtssystem. Wie also schaffte es die Zentralregierung dieses riesigen Landes, eine Milliarde Bürger dazu zu bringen, sich ihren Anordnungen zu fügen? Die allgegenwärtigen lokalen Hüter von Gesetz und Ordnung spielten dabei jedenfalls eine nicht unwesentliche Rolle. Nach Einführung der Ein-Kind-Politik hatten sie ein besonders wachsames Auge auf Menschen, die Gäste bei sich zu Hause aufnahmen. Als ein guter Freund von mir mit seinem Kind einen Besuch bei den Großeltern machen wollte und auf dem Weg dorthin ein paar Tage bei mir in Nanjing Zwischenstation einlegte, quälten die Beamten sich keuchend und ächzend hinauf zu meiner Wohnung im vierten Stock und wollten wissen, ob er denn auch eine Bescheinigung habe, die belegte, dass es sein einziges Kind war.
    Die »Zusatzkind-Partisanen« verfügten jedoch weder über befristete Aufenthaltsgenehmigungen für die Stadt noch über Schreiben aus ihren Dörfern, die ihnen die Erlaubnis gaben, sich als Tagelöhner zu verdingen, noch über Ein-Kind-Bescheinigungen. In den Großstädten befanden sie sich im Zentrum des von der Regierung kontrollierten Territoriums, sozusagen hinter den feindlichen Linien. Sie konnten rasch durchreisen, aber sie durften nicht bleiben. Viele dieser kühnen »Partisanen« waren im Grunde gute Menschen und mutige Eltern, die sich auf die Straßen der Städte wagten, weil sie hofften, ihre »ungeplanten« Töchter dort lassen zu können. Sie wussten, dass Stadtmenschen deutlich besser lebten als sie und auch Mädchen viel besser behandelten. Diese bäuerlichen »Partisanen« brachten es nicht über sich, ihre neugeborenen Töchter zu töten, wie das rückständigere Dorfbewohner taten. Aber geprägt von alten Traditionen und der Unwissenheit, in der sie aufgewachsen waren, glaubten sie dennoch fest daran, dass sie einen Sohn brauchten, weil ihr Leben sonst gescheitert war und sie nicht in den Himmel kamen. Ihre Ahnen in der Unterwelt wären erbost, weil sie keinen Sohn hervorgebracht hatten, der den Fortbestand der Familie sicherte, und sie könnten niemals in Frieden ruhen. Diese Menschen waren hin- und hergerissen zwischen den aufgeklärten Werten der modernen Gesellschaft und der Brutalität alter Traditionen, bei der menschliche Gefühle leicht verlorengehen konnten.
    Zudem waren sie Zeugen der wirtschaftlichen und politischen Reformen, mit denen China sich

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