Wolkentöchter
rollten, die Strecke blockierten.
Schließlich erreichten wir den Bahnhof Xi’an. Es war ein großer Bahnhof, und der Zug machte hier fünfzehn Minuten halt – lang genug, dass Passagiere aussteigen konnten, um neuen Proviant zu kaufen und sich ein wenig die Beine zu vertreten. Ich stieg nicht aus, sondern schaute nur durchs Fenster. Ganz in der Nähe stand ein Handkarren mit Essen darauf, und davor sah ich ein Meer aus Händen. Keiner stellte sich brav in eine Warteschlange. Mir kam der Gedanke, dass es bei allen Bemühungen, den altruistischen Geist des Kommunismus im Menschen zu wecken, nicht gelungen war, den kapitalistischen Glauben zu überwinden, dass die eigenen Interessen immer und überall Vorrang hatten.
Der Zug hatte sich gerade wieder in Bewegung gesetzt, als ich die Kleine entdeckte, mit der ich Fingerspiele gemacht hatte. Sie saß neben einem der Karren, lutschte noch immer am Daumen und hielt ein großes Dampfbrötchen, ein
mantou,
in der anderen Hand. Sie starrte geistesabwesend auf den anfahrenden Zug. Ihr Vater war nirgends zu sehen, aber ich drückte das Gesicht gegen die Fensterscheibe und zeigte ihr die »Orchideenfinger«. Es war nur meine Art, mich noch einmal von ihr zu verabschieden. Ich dachte nicht, dass sie mich würde sehen können, obwohl der Zug sich sehr langsam bewegte. Umso überraschter war ich, als sie auf einmal ein Händchen in meine Richtung hob und ebenfalls die »Orchideenfinger« machte. Was für eine aufgeweckte Kleine!
Der Zug nahm Fahrt auf und tauchte erneut in die dunkle Nacht. Die Erinnerung an das goldige kleine Mädchen ließ mich nicht los. Ich war wirklich sehr neidisch auf ihre Eltern; ich hatte mir eine Tochter ersehnt, aber leider hatte es nicht sein sollen. Im Grunde war »wünschen« etwas, das ich mir nicht mal im Traum erlaubte. Ich gehörte zu der Generation von Chinesen, deren Leben geprägt wurde durch eine Abfolge von Krisen: Wir waren während der schrecklichen Hungersnot des »Großen Sprungs nach vorn« geboren worden. 1965 kam ich in die Grundschule, doch schon 1966 wurden fast alle Schulen und Hochschulen im Zuge der Kulturrevolution geschlossen. 1975 dann, als ich eigentlich zur Universität hätte gehen sollen, schickte man uns zur Arbeit aufs Land. In den 1980 ern, als wir Mütter und Väter werden konnten, wurde die Ein-Kind-Politik eingeführt. Das Leben war sehr hart, bis die Wirtschaftsreformen China öffneten, und dann kam in den 1990 ern die Arbeitslosigkeit …
Plötzlich riss mich eine Lautsprecherdurchsage aus meinen Gedanken: »Genossin Xinran vom Rundfunk möchte bitte ins Büro des Fahrdienstleiters in Wagen sieben kommen, um einen dringenden Telefonanruf entgegenzunehmen!«
Die meinten mich. Ich bekam einen Schreck: War meinem Sohn etwas zugestoßen? Aber das konnte es nicht sein. Der Sender würde eine Privatangelegenheit nicht als so dringend einstufen. War vielleicht irgendeine Katastrophe passiert? Im Radio zu arbeiten bedeutete eine größere politische Verantwortung als die Arbeit für Fernsehen oder Zeitungen, weil so wenige Leute einen Fernseher besaßen und so viele Analphabeten waren. Der Leiter des Senders hatte mir das mal erklärt, in einem Gespräch kurz nachdem ich beim Radio angefangen hatte. Er meinte, wir Radioleute würden, falls es je einen Versuch gäbe, die Regierung zu stürzen, in vorderster Linie stehen, weil wir das Sprachrohr unserer Staatslenker seien.
Ich hastete zu Wagen sieben. Auf dem Weg dorthin meinte ich, aus den Augenwinkeln den Mann zu sehen, der mir gegenübergesessen hatte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder als lächerlich. Schließlich hatte ich mit eigenen Augen seine kleine Tochter auf dem Bahnsteig gesehen. Wie hätte ihr Vater da noch im Zug sein können?
Der Fahrdienstleiter reichte mir das Telefon. Die Zentralregierung, so wurde mir mitgeteilt, hatte eine Nachrichtensperre verhängt. Führende sowjetische Politiker waren zu Besuch in China, und während ihres Aufenthaltes durften weder die Reformpolitik in der Sowjetunion noch die Normalisierung der chinesisch-sowjetischen Beziehungen in den Medien erwähnt werden. Diese Einschränkung galt in den nächsten vierundzwanzig Stunden für alle Nachrichtensender. (Niemand sah die Studentendemonstrationen voraus, mit denen die sowjetischen Besucher empfangen wurden.)
Solche dringenden Anweisungen, Vorsicht bei der Nachrichtenauswahl walten zu lassen, waren nichts Neues für mich, aber im Grunde fand ich die Sache überzogen.
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