Wolkentöchter
schwanger und gebar leider wieder ein Mädchen. Diesmal nahm ihr die Schwiegermutter das Kind aus den Armen und drückte es in der Schüssel unter Wasser. Aber das Baby klammerte sich ans Leben, und als alle außer ihrem Ehemann gegangen waren, stellte Kumei fest, dass es noch lebte.
Sie flehte ihren Mann an, das Baby in die Stadt zu bringen, ihm eine Chance zu geben, am Leben zu bleiben, aber er hörte nicht auf sie. Sie hatte kaum vierundzwanzig Stunden lang so etwas wie das Gefühl, Mutter zu sein, aber sie machte sich keine Illusionen, dass ihr Kind wirklich heranwachsen würde. Stattdessen war ihr nur allzu bewusst, dass sie eine Verfehlung begangen hatte. Sie war diejenige, der es nicht gelungen war, der Familie einen Erben zu schenken. Dann suchte sich ihr Mann Arbeit in der Stadt, und als er nicht zurückkam, war ihr klar, dass sie der Grund dafür war. Seine enttäuschten Eltern wollten sie loswerden: Sie hatte Unheil über die Familie gebracht. Zu ihrem Glück nahm Ying sie schließlich mit in die Stadt. Sie hatte seit ihrer Kindheit nichts als böse Worte und grobe Behandlung erfahren, doch bei Minguang und ihrem Mann wurde sie nicht nur freundlich aufgenommen, sondern verdiente sogar zum ersten Mal ihr eigenes Geld. Sie fühlte sich wie im Himmel.
Doch dann erlebte sie im Tiny Home Chef, wie eine Fünfjährige dort ihren Geburtstag feierte. Sie war fassungslos. Wie war es möglich, dass die Menschen in der Stadt sich so liebevoll um ihre Töchter kümmerten? Die Kleine sah aus wie ein Mädchen aus einem Märchen. Zum ersten Mal konnte Kumei sich richtig vorstellen, wie es gewesen wäre, Mutter einer kleinen Tochter zu sein. Wenn ihre beiden Mädchen überlebt hätten, wären sie jetzt genauso rosarot und niedlich. Und wenn sie solche Röcke wie die Mädchen aus der Stadt gehabt hätten, wären sie auch genauso hübsch gewesen. Wenn es doch nur möglich gewesen wäre, sie hierher mitzunehmen! Aber sie hatten ja noch nicht mal die Chance gehabt, auch nur einen einzigen Tag zu leben. Sie wurde von einer solchen Verbitterung übermannt, dass sie schließlich verzweifelte und versuchte, sich das Leben zu nehmen. Zumindest hätte sie so die Chance, die kleinen nackten Körper noch einmal in die Arme zu schließen.
Als Kumei mit ihrer Geschichte fertig war, fragte sie uns unter Tränen: »Warum durften meine Töchter nicht leben? Warum musste ich meine eigenen Töchter töten? Ich wünschte, sie hätten nur mal einen Bissen von diesem köstlichen Geburtstagskuchen kosten können, nur einen einzigen Bissen! Ich wünschte, sie hätten solche hübschen Sachen anziehen können, nur mal für einen einzigen Tag!«
Wir saßen stumm da, und Kumeis Worte hallten uns in den Ohren wider.
Warum durften meine Töchter nicht leben?
Als ich China 1997 den Rücken kehrte, arbeitete Kumei noch immer im Tiny Home Chef. Minguang machte aus Kumeis Geschichte eine Novelle, die ich in meiner Sendung vorlas. Unter den vielen Leserbriefen, die ich daraufhin erhielt, waren Dutzende, in denen Frauen mir schilderten, dass auch sie ihre erstgeborene Tochter verloren hatten.
Später erzählte mir Minguang, warum Kumei Reinigungsmittel und Spülmittel geschluckt hatte. Da sie Analphabetin war, hatte sie gedacht, Putzmittel seien dasselbe wie Pflanzenschutzmittel.
Im ländlichen China begehen zahllose Frauen Selbstmord, indem sie Pflanzenschutzmittel schlucken. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2002 war China das Land mit der höchsten Selbstmordrate bei Frauen, und das Schlucken von Pflanzenschutzmitteln war die häufigste Methode. China ist eines der wenigen Länder, in denen mehr Frauen als Männer Selbstmord begehen. Selbstmord steht bei den Todesursachen an fünfter Stelle, und Frauen sind am gefährdetsten. ( BBC -News-Webseite über China, 04 / 2002 . Vgl. Anhang C.)
[home]
5
Zusatzkind-Partisanen: ein Vater auf der Flucht
Sie weint fast jede Nacht und sagt, dass sie von den Mädchen geträumt hat. Ich glaub das eigentlich nicht. Wir arbeiten tagsüber so schwer, dass wir keine Zeit für Träume haben.
I n den 1990 er Jahren wurde in China der Ausdruck »Zusatzkind-Partisanen« bekannt. Er stammte aus einem Sketch, den CCTV (der staatliche Fernsehsender) 1990 im Rahmen seiner Neujahrsshow brachte und in dem ein Bauernehepaar, das bereits drei Töchter hat, sein Dorf verlässt, um die Vorschriften zur Geburtenkontrolle zu umgehen und zu versuchen, doch noch einen Jungen zu bekommen. Während sie von
Weitere Kostenlose Bücher