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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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wie er sich behutsam durch den vollen Waggon schob. Der Speisewagen war geschlossen, die Toilette war in der entgegengesetzten Richtung: Was hatte er vor? Ich vermutete, dass er zu einem Bekannten in einem anderen Abteil wollte …
    Etwa eine halbe Stunde später kam er zurück und hatte ein kleines Mädchen dabei. Die Kleine mochte vielleicht achtzehn Monate alt sein und hatte riesige Augen. Sie saß ganz brav auf seinem Schoß, lutschte am Daumen und starrte mich eindringlich an. Ehe ich Gelegenheit hatte, hallo zu sagen oder zu fragen, wer sie war, sagte der Mann: »Das ist meine Tochter. Sie hat bei ihrer Mutter gesessen, aber ich dachte, dort ist es zu eng, und die Leute da sind nicht so nett wie Sie. Also hab ich sie hergeholt. Außerdem hat ihre Mutter so Gelegenheit, ein bisschen zu schlafen.«
    Dass er so fürsorglich zu seiner Frau war, beeindruckte mich. In den vielen Hörerinnenbriefen, die ich bekam, war nur äußerst selten von Männern die Rede, die bereit waren, sich um ihre Kinder zu kümmern. Die Kleine schlief im Handumdrehen in den Armen ihres Vaters ein.
    Der Mann streichelte die Hände und Füße seiner schlafenden Tochter. Ich sah ihm dabei zu und musste unwillkürlich mit einem Gefühl der Bitterkeit an meinen eigenen Vater denken. Er hatte mir nie ein Vater sein wollen, und deshalb habe ich ihn auch nicht kennengelernt. Auch an meine Mutter habe ich nicht viele Erinnerungen dieser Art. Falls sie mich je gestreichelt oder liebkost hat, dann muss ich noch so klein gewesen sein, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann. Ich bin bei keinem von beiden aufgewachsen. Nacheinander hatten mir der »Große Sprung nach vorn«, der Aufbau von Chinas Armee und Industrie, und die Kulturrevolution meine Familie geraubt. Ich habe nicht mal einen Geburtstag mit ihnen gefeiert. Ich war in einer Zeit aufgewachsen, in der das Vaterland und die Revolution Vorrang vor allem anderen hatten.
    All diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, und plötzlich schossen mir Tränen in die Augen, drohten meine Wangen hinabzulaufen … Aber ich war fest entschlossen, nicht vor anderen zu weinen. Ich bin in dem Glauben erzogen worden, dass Weinen ein Zeichen von Schwäche ist. Ich rieb mir das Gesicht, als wäre ich gerade aufgewacht. Da erhob sich der Mann und sagte leise zu mir: »Wir steigen gleich aus. Auf Wiedersehen!«
    »Auf Wiedersehen!«, erwiderte ich ebenfalls flüsternd.
    Die Kleine war aufgewacht und kletterte hoch bis zur Schulter ihres Vaters, wo sie sich festhielt, am Daumen lutschte und mich mit diesen großen, strahlenden Augen ansah. Ich winkte ihr zu, und sie nahm den Daumen aus dem Mund und winkte zurück: »Auf Wiedersehen!« Ich hob die Finger an die Lippen und warf ihr eine Kusshand zu, und sie ahmte die Geste nach und warf mir eine Kusshand zurück. Ich tippte mir mit dem Daumen auf die Nase, und sie tat mit ihrem Däumchen dasselbe. Ich hob beide Hände hoch an den Kopf und wackelte mit ihnen, als wären sie Hasenohren. Sie hob die Händchen rechts und links an die Wangen und wackelte ebenfalls damit. Ich weiß noch, was wir als Letztes machten, ehe die beiden verschwanden: Es waren die »Orchideenfinger«, meine große »Orchidee« neben ihrer kleinen. (Das ist eine Fingerhaltung im chinesischen Tanz, die an die Blütenblätter einer Orchidee erinnert: Hand und Finger gestreckt, Mittelfinger nach unten zum Daumen geneigt.)
    Der Zug rollte in einen Bahnhof. Es war ein kurzer Aufenthalt – bloß drei Minuten. Zu dieser späten Stunde stiegen nur wenige Fahrgäste aus. Ich schaute aus dem Fenster, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, aber ich konnte weder den Mann noch seine Tochter in der kleinen Schar, die ausgestiegen war, entdecken. Ich vermutete, dass sie irgendwo anders auf dem Bahnsteig waren.
    Ich suchte weiter nach einer bequemen Sitzhaltung, und eine gutherzige Kollegin bestand darauf, dass wir die Plätze tauschten und ich mich ans Fenster setzte. Das war viel besser: Ich konnte mich an die Scheibe lehnen und meinen schmerzenden Rücken ein wenig entlasten. Aber der schwache Schweißgeruch des Fremden lag noch immer in der Luft und hielt mich wach, also legte ich den Kopf ans Fenster und starrte hinaus. Die Welt draußen war pechschwarz, durchsetzt mit einigen wenigen Lichtpunkten, die, wie ich wusste, die abgelegenen Hütten der Gleisinspektoren markierten. Sie lebten das ganze Jahr über hier draußen und kontrollierten die Weichen, da oft Steine, die von den Berghängen

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