Wolkentöchter
Nachdem ich ihn zu Hause abgeliefert hatte, ging es zurück zum Sender, um die tägliche Ausgabe von
Worte im Abendwind
vorzubereiten. Später rief ich Fen an, und sie sagte, Kumei sei eingeschlafen.
Als ich nach der Sendung heimkam, sah ich im Mondschein die Silhouetten der beiden vor dem Fenster, wo sie anscheinend ins Gespräch vertieft waren, und irgendwie rührte mich das. Sie hatten offensichtlich Freundschaft geschlossen – Kumei sagte gerade etwas zu Fen –, und ich ließ sie allein, weil ich das Gefühl hatte, dass sie noch mehr ungestörte Zeit miteinander brauchten.
Sie mussten spätnachts zu Bett gegangen sein, aber am nächsten Morgen waren sie schon vor mir wieder auf den Beinen und hatten die ganze Hausarbeit ohne einen Laut erledigt. Panpan war begeistert, dass wir nun noch eine
a-yi
hatten, und die beiden hatten es sogar geschafft, dass er sich anstandslos anziehen ließ. Ich hatte immer darauf bestanden, für Panpan das Frühstück zu machen, weil meiner Überzeugung nach ein angenehmes und frisch zubereitetes Frühstück den besten Start in einen guten Tag darstellte. Ich fand es wichtig, dass Eltern den Morgen zu einem Schwerpunkt des Familienlebens machten, zu etwas, worauf sich das Kind freute, vor allem, wenn es zu jenen Kindern gehörte, die morgens nicht aufstehen und abends nicht ins Bett wollen. An diesem Tag jedoch beschloss ich, Kumei und Fen zu bitten, für uns alle das Frühstück zu machen. Als ich sah, wie harmonisch sie zusammenarbeiteten, war ich Fen ungeheuer dankbar, denn ich konnte bereits eine erfreuliche Veränderung bei Kumei feststellen.
Der vierte Tag, den Kumei bei uns verbrachte, war ein Freitag, und als ich am Abend von der Arbeit nach Hause kam, sagte ich ihr, ich würde am Samstag nicht zum Sender fahren. Wir würden vormittags gemeinsam die Hausarbeit erledigen, und nachmittags könnten wir alle mit Panpan in den Park gehen. Falls sie das wollte, könnte ich Minguang und ihrem Mann vorschlagen, sich dort mit uns zu treffen. Kumei warf Fen einen ernsten Blick zu und nickte dann. Es war genau, wie Minguang gesagt hatte: Kumei hatte tatsächlich Angst, ich würde ihr nicht glauben.
Nachdem wir uns alle im Park getroffen hatten, suchten wir uns ein Plätzchen auf der Wiese, und Fen nahm Panpan mit, um mit ihm zu spielen. Ehe sie ging, flüsterte sie Kumei etwas ins Ohr. Kumei blickte wieder sehr ernst und nickte. Dann erzählte sie ihren Arbeitgebern und mir, warum sie so traurig war.
Sie stammte aus den Bergen im Westen der Provinz Hunan und war als Braut an eine Familie in Nord-Anhui verkauft worden. Am Tag ihrer Ankunft in Yuanyang wurde sie zwangsverheiratet. Der Mann war ein stämmiger, überaus wortkarger Bauer. Schon bald wurde Kumei schwanger.
Als die Niederkunft näher rückte, verbrannte ihre Schwiegermutter jeden Tag Weihrauch und betete vor dem Schrein, um Guanyin, die Göttin der Gnade, anzuflehen, sie möge die Familie mit einem Enkelsohn segnen. Bei Kumei setzten die Wehen ein, und da es die Geburt des ersten Enkelkindes war, versammelte sich an dem Abend die ganze Familie in der Küche, um auf die erhoffte Nachricht zu warten, dass Kumei einen Sohn geboren hatte. Kumei hatte schreckliche Angst davor, es würde ein Mädchen sein, denn dann wären alle zornig auf sie.
Die Hebamme holte das Kind, und noch ehe es seinen ersten Schrei getan hatte, sah sie im schwachen Schein der Öllampe nach. Dann seufzte sie. Die enttäuschten Schwiegereltern und die übrigen Verwandten, die draußen gewartet hatten, fluchten und gingen, einer nach dem anderen. Die Hebamme sagte ein paar Worte, strich ihren Lohn ein und ging ebenfalls. Kumei wusste nicht, was sie machen sollte. Ihr Neugeborenes tat mühsam die ersten Atemzüge, während sie unter Tränen versuchte, es zu wickeln. Schon in ihrer Kindheit hatte sie die Erwachsenen sagen hören, dass das erste Enkelkind, so es ein Mädchen war, nicht überleben durfte. Falls doch, zerstöre es die Wurzeln der Familie. Das erste überlebende Baby musste ein Junge sein.
Kumei betrachtete die Schüssel, die die Hebamme vor der Geburt für sie mit Wasser gefüllt hatte. Es war das »Plage- töten-Wasser«, um das neugeborene Mädchen darin zu ertränken. Bei einem Jungen hieß die Schüssel, in der das Baby gewaschen wurde, das »Wurzeln-wässern-Bad«. Sie wusste, es war ihre Pflicht, das Leben ihrer Tochter zu beenden, indem sie sie in der Schüssel ertränkte, und so tat sie es.
Im Jahr darauf wurde sie wieder
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