Wolkentöchter
sie sich mit der Hand den Rotz von der triefenden Nase, um sich dann die Hand an der Kleidung abzuwischen. Wenn ich sie anschaute, fand ich es beinahe unmöglich, ihre außerordentliche Geschichte zu glauben. In den 1950 er Jahren, als sie ein junges Mädchen war, kehrten ihre Eltern mit ihr aus Amerika zurück, um beim »nationalen Wiederaufbau« zu helfen, wurden jedoch verhaftet, als die Regierung eine Verschwörung von Auslandschinesen und der feindlichen, in Taiwan stationierten Kuomintang aufdeckte. Sie selbst wurde von einem Freund der Familie in der Nacht vor der Verhaftung der Eltern in die ärmste Region der Shanxi-Berge in Sicherheit gebracht.
Zu Beginn der Kulturrevolution wurde ihre Verheiratung mit einem der mittellosesten Männer der Gegend arrangiert. Das brachte ihr einen gewissen Schutz, weil sie dadurch dem »roten« Lager zugerechnet wurde. Sie hatte drei Fotos behalten, die ihre Geschichte belegten: Auf einem war sie als fröhliches Mädchen in einem Kleid zu sehen, wie sie ihre Eltern umarmte, auf dem nächsten spielte sie im weißen Abendkleid Klavier, und das dritte zeigte ihre Eltern in westlicher Kleidung vor ihrem amerikanischen Haus. Die Frau, die ich interviewte, sah aus wie eine alte Bäuerin – keine Spur mehr von ihrem früheren wohlhabenden, eleganten Leben –, wenngleich ich eine Ähnlichkeit mit ihren Eltern erkennen konnte.
»Aber wie sind Sie nur … sind Sie …?« Ich wusste wirklich nicht, wie ich meine Frage formulieren sollte.
»Wie ich damit fertig geworden bin? Möchten Sie das fragen?« Sie wischte sich erneut die Nase trocken und deutete dann mit ernster Miene auf einen Bach, der durch eine Spalte in dem Felsen nicht weit von ihren Füßen rann. Sie sagte: »Nehmen Sie einen Kieselstein und brechen Sie ihn auf! Dann verstehen Sie es.«
Ich suchte mir einen Kiesel aus und schlug ihn mit einem größeren Stein entzwei, konnte aber in seinem Innern keine Antwort auf meine Frage finden.
»Warum ist ein Kiesel rund?« Sie war sichtlich verärgert über meine Begriffsstutzigkeit.
»Weil er von Wasser und Zeit glatt geschliffen worden ist, nicht?«, antwortete ich zögerlich.
»Und innen? Dringt das Wasser in ihn ein? Genau da ist die Frau.« Sie schleuderte mir diesen letzten Satz entgegen und ging.
Und dann verstand ich, was sie meinte: Eine Frau ist wie ein Kieselstein, den Zeit und Wasser glatt und rund geschliffen haben. Unsere äußere Erscheinung wird durch das Schicksal geformt, das uns im Leben zuteil wird, aber es kann niemals das Herz einer Frau und ihre mütterlichen Instinkte verändern.
Von da an liebte ich Kieselsteine. Sie schienen meinen Wunsch zu symbolisieren, das wahre Wesen chinesischer Frauen auszuloten.
Doch auf meiner Reise rund um die Welt konnte ich keine schweren Steine mitnehmen. Nach langem Grübeln schenkte ich Freunden meine geliebten Kieselsteine, die ich während meiner Reisen als Journalistin gesammelt hatte. Ich weiß nicht, ob sie meine Gefühle im Hinblick auf die Geschichten hinter jedem dieser Steine oder im Hinblick auf den Kieselstein, zu dem ich selbst mit zunehmendem Alter wurde, wirklich verstanden. Um sie würdigen zu können, muss man erkennen, warum sie wertvoll sind. Ich wusste nicht, wie weit meine Reise mich führen oder wie lange sie dauern würde. Ich war einfach nur froh, dass die Kieselsteine, die ich in der Obhut meiner Freunde zurückließ, nicht im Laufe unseres Lebens abgewetzt oder von Katastrophen zerstört werden würden. Nur einen einzigen Stein nahm ich mit. Es war der Stein, der mich über Jahre hinweg auf meinen geistigen und tatsächlichen Reisen durch China begleitet hatte. Ich hatte ihn am Ufer des Jangtsekiang gefunden, als ein seltsames Schicksal bestimmt hatte, dass ich zuerst eine Mutter und dann eine Tochter treffen sollte, deren Geschichte Sie in Kapitel 9 des vorliegenden Buches lesen können.
Die einzigen »modernen« Sachen unter meinen Habseligkeiten waren einige hundert Musik-CDs und etwa einhundert ältere Kassettenaufnahmen. DVDs kamen in China damals gerade erst auf den Markt, und ich konnte sie mir nicht leisten.
(Ich hatte auch nicht viele Videos, und zwar aus einem Grund, den ich vollkommen einleuchtend fand, der anderen jedoch lächerlich erscheinen mag: Sich Videos anzuschauen war in meiner Vorstellung vor allem mit korrupten Beamten verbunden, die tagsüber ihre Sekretärinnen begrapschten, sich abends mit Eskortgirls in Karaoke-Bars amüsierten, an den Wochenenden mit ihren
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