Wolkentöchter
Geliebten schliefen und dann nach Hause fuhren, um ihre Ehefrauen zu beschimpfen, weil sie so langweilig seien. Jedes Mal, wenn ich überlegte, mir ein Video zu kaufen, überkam mich der Ekel vor diesen besoffenen Widerlingen. Ich hatte jahrelang Radiosendungen für Frauen moderiert, hatte tränenreiche Klagen von vaterlosen Kindern gehört und freimütige Beichten von Ehemännern, die sich anderen Frauen zugewendet hatten, und dabei hatte ich gelernt, dass die unwiderstehliche Anziehungskraft von Karaoke einer der Gründe war, warum diese Männer ihre Familien so bedenkenlos verließen: die traumähnliche Szenerie, das unvergessliche Lächeln, die anrührenden Texte, der Dufthauch der Sängerin, die neben ihnen stand …)
Aber Musikkassetten waren etwas anderes, und es fiel mir unendlich schwer, mich von ihnen zu trennen. Sie hatten mich seit dem Ende der 1980 er Jahre begleitet, als die Massenmedien anfingen, ihre Sendungen mit Popmusik oder westlicher klassischer Musik zu untermalen, bis in die ausgehenden 1990 er Jahre, als China seine wirtschaftliche Entwicklung mit rasender Geschwindigkeit in Angriff nahm und sich in die westliche Kultur verliebte. Deng Xiaoping stieß die quietschende Tür auf, die China seit Jahrtausenden von der übrigen Welt abgeschirmt hatte, und die Musik, die hereinströmte, speiste die ausgehungerten Seelen der jungen Chinesen, so sah ich das jedenfalls. Damals besaß niemand einen Computer, und die meisten Menschen hatten weder Fernseher noch Telefon. Der Rundfunk beschränkte sich auf die monotonen Propagandasendungen der Regierung. Im China der 1980 er Jahre waren chinesische Lieder und Theaterstücke, die bereits dreißig Jahre zuvor entstanden waren, die fortschrittlichste Form von Kultur. Jeder Chinese, jede Chinesin über vierzig hat einen Lieblingssong, der nie seine Wirkung verfehlt. Die schwungvollen Rhythmen nährten die angeschlagenen, niedergedrückten und ausgelaugten Seelen, und die Texte verhießen Liebe und Zärtlichkeit für Körper, die nach der verbotenen Frucht sexueller Liebe hungerten.
Wenn ich die Briefe meiner Hörerinnen las, kam es oft vor, dass mir dabei wieder und wieder eine beliebte Melodie oder die aufrüttelnden Zeilen eines Songs durch den Kopf gingen, und meine Reaktion darauf war, einen bestimmten Song oder ein paar Takte einer Melodie zu spielen. So wurden diese altmodischen Kassetten für mich zum Archiv des Geistes jener Zeit.
Ich wappnete mich für meinen kühnen Vorstoß in eine vollkommen unbekannte Zukunft im Westen, indem ich die einzige Musik mitnahm, die ich kannte und liebte und ohne die ich mir mein Leben nicht vorstellen konnte: eine chinesische CD von
Paradiesvogel
und zwei Bänder mit Enya Brennan und Schumann.
Robert Schumanns
Träumerei
war die Erkennungsmelodie von
Worte im Abendwind,
der ersten Sendung, die ich für Radio Nanjing moderierte. Nie hätte ich gedacht, dass meine Worte und die weichen, verträumten Klänge des Schumann-Stücks mir über hundert Briefe pro Tag bescheren würden, aber wenn die Musik einsetzte, wusste ich, dass ich als Moderatorin der Sendung mit einer klaren Sprache meinen ganz persönlichen Stempel aufdrücken würde.
Die chinesische CD von
Paradiesvogel
enthält eine Auswahl der besten Panflötenmusik (Die Panflöte ist ein altes chinesisches Instrument, das in der chinesischen Musik als besonders fröhlich gilt.) von James Last sowie moderne westliche und chinesische Klassiker. Ich mag besonders
Edelweiß
und
Moscow Suburbs’ Night,
aber auch die anderen Stücke, die die Hörerinnen meiner Sendung manchmal erwähnten, gefallen mir.
Enya wurde Ende der 1980 er Jahre erstmals in den chinesischen Medien gespielt, als diese anfingen, ihre Hauptprogramme live zu senden. (Enya Brennan ist eine irische Sängerin, Musikerin und Komponistin. Sie ist Irlands meistverkaufte Solokünstlerin und nach U 2 Irlands größter Musikexport. Ihre Werke wurden mit vier Grammy Awards und einer Oscarnominierung ausgezeichnet. Sie hat in ihrer langen Karriere in sage und schreibe zehn Sprachen gesungen. Enya ist die anglisierte Schreibweise ihres irischen Vornamens Eithne, der im Dialekt ihres Heimat-County Donegal so ausgesprochen wird.) Ich hörte ihre Stimme zum ersten Mal, als ich mir im Rahmen meiner Arbeit wie so oft neu veröffentlichte Aufnahmen anhörte, und ich weiß noch, wie beeindruckt ich von diesen trägen Klängen war. Tatsächlich rührte mich ihr Gesang zu Tränen und weckte zugleich unbeschreibliche
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