Wolkentöchter
und lassen, was sie wollte. Sie las die romantischen Erzählungen westlicher Literatur, sie plauderte und lachte mit den Studenten ebenso wie mit den Studentinnen. Bereits nach wenigen Monaten waren ihr diese Freiheiten zu Kopf gestiegen wie Wein. Ihre Eltern schrieben häufig, die Vorschriften der Fachhochschule hingen überall aus, und die Arbeiter- und Bauernkader kontrollierten das Verhalten der Studenten. Aber davon hatte sie bald die Nase voll. Sie lehnte die gesellschaftlich akzeptierten Verhaltensnormen ab, vor allem, nachdem sie die schockierende Entdeckung gemacht hatte, dass beide Eltern während der Kulturrevolution jeweils den Menschen verlassen hatten, den sie wirklich liebten, um Mitglieder der Roten Garden zu werden. Sie hatten ihren Vorgesetzten gehorcht, einander geheiratet und anschließend ein Baby abgetrieben, alles, um der Revolution zu dienen. Sie konnte es einfach nicht fassen, dass ihre Eltern, die sie vergöttert hatte, so zynisch und feige gewesen waren. Sie schwor sich, so wie Zhu Yingtai in der alten Legende
Schmetterlingsliebende
nach der wahren Liebe zu suchen. Und wenn sie sie gefunden hätte, würde sie wie Jane Eyre alles opfern, um für ihre Liebe zu kämpfen, und sie würde eine Frau werden, die nur für die Liebe lebt.
Irgendwann im letzten Studienjahr begann ein begeisterungsfähiger junger Mann, mit ihr zusammen englische Aussprache zu üben, und er erzählte ihr von den großen Meisterwerken der Weltliteratur. Wenn sie mit ihm zusammen war, raste ihr vor Aufregung der Puls. Schon allein ihn atmen zu hören war berauschend. Sie wurde von unbändigen Sehnsüchten überwältigt, wie sie sie noch nie erlebt hatte. Irgendwann spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter und wandte ihm das Gesicht zu. Sie küssten sich leidenschaftlich in einer Ecke der Bibliothek, wieder und wieder.
In dieser Nacht lag sie schlaflos in ihrem Bett im Studentenwohnheim. Als der Tag anbrach, fiel sie in einen erschöpften Schlaf und hörte im Traum, wie eine tiefe Stimme vom Himmel herabdröhnte: »Du bist eine schlechte Frau, die verbotene Früchte stiehlt.« Sie erwachte, lächelte aber vor sich hin. Was war denn schon falsch daran, eine »schlechte Frau« zu sein, wenn sie dabei so glücklich war?
Wir Chinesen, die wir Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts geboren wurden, wissen, dass die meisten von uns das Produkt einer sexuell unaufgeklärten Gesellschaft waren. Wir warfen Zuneigung, Sex und Liebe in einen Topf, als gäbe es da keinen Unterschied, wir verloren unsere animalischen Instinkte und wurde »domestiziert«, es gab keine gültigen Maßstäbe, was richtig und was falsch war, wir hatten keine Möglichkeit zu erkennen, was Liebe war oder was sie bedeutete. In unseren Familien, Schulen und sogar in der Gesellschaft als Ganzes war sexuelle Aufklärung etwas Schmutziges und wurde sogar für schandhaft gehalten.
An einem kalten Winterabend in jenem Jahr schlichen sich die beiden Verliebten in eine Küche, die an die Bibliothek grenzte, und dort, neben dem warmen Trog mit Brotteig, wurde das Mädchen zur Frau und schenkte ihre Jungfräulichkeit dem ersten Mann, der sie berührt hatte. Das Blut aus ihrem gerissenen Hymen erschreckte sie nicht – sie wusste aus einschlägigen Büchern, dass man sein Leben und sein Blut geben musste, wenn man ein Opfer bringen wollte. Sie war stolz und froh, für ihren Geliebten zu bluten.
Während der folgenden zwei Wintermonate »bewiesen« die beiden wieder und wieder neben dem warmen Trog mit aufgehendem Teig, wie stark ihre Liebe war. Ihre Kommilitonen meinten, sie wären die fleißigsten Studenten überhaupt, weil sie immer erst so spät abends zurück in ihre Wohnheime kamen. Nie standen sie auf der Liste der abwesenden Studenten, dafür tauchten ihre Namen häufig auf den Ausleihkarten der Bibliothek auf. Der Himmel meinte es wohl gut mit ihnen, so oft ließ er sie ungestraft von den verbotenen Früchten kosten, und das in einer Zeit, in der es jungen Männern und Frauen verboten war, engen persönlichen Umgang miteinander zu pflegen.
Aber verboten waren diese Freuden nun mal, und als die junge Frau zwei Monate später zum Neujahrsfest nach Hause fuhr, war ihre Periode ausgeblieben. Sie wusste nicht, was das bedeutete – ihre Eltern hatten ihr in der Pubertät keinerlei Möglichkeit zu sexueller Aufklärung verschafft. Die beiden lebten neben ihr wie Arbeitsmaschinen. Seit sie sich erinnern konnte, hatten sie ihre Liebe davon abhängig gemacht, ob sie
Weitere Kostenlose Bücher