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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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Amerikanern adoptiert wird, wer weiß, vielleicht kannst du sie dann irgendwann in Amerika wiederfinden. Die technische Entwicklung schreitet ja immer weiter voran, da gibt es bestimmt eine Möglichkeit. Wir haben nicht mehr lange zu leben, bitte gönn uns einen ruhigen Lebensabend!‹
    Danach traf ich schließlich die Entscheidung, meine Tochter zur Adoption zu geben, weil ich dachte, ich könnte sie in Amerika wiederfinden.« Sie schüttelte langsam den Kopf und senkte den Blick auf den Tisch. Wir schwiegen, und plötzlich nahm ich wieder die Geräusche des voll besetzten Cafés um uns herum wahr.
    »Und haben Sie sie gefunden?«, fragte ich endlich.
    »Noch nicht. Ich habe erst 2005 erfahren, dass dreißigtausend adoptierte chinesische Kinder in den Staaten leben.«
    »Hat Ihre Tochter irgendwelche unverwechselbaren Muttermale?« Ich hatte den Gedanken, dass ich auf der Homepage von The Mothers’ Bridge of Love eine Suchmeldung veröffentlichen könnte.
    »Nein, sie war ein makelloses kleines Mädchen. Ihr rechtes Ohr war ein bisschen geknickt, weil ich sie immer im linken Arm gehalten hab und es dadurch gedrückt wurde. Aber wie gesagt, nur ein bisschen, und vielleicht hat sich das ja auch wieder gegeben, wenn sie dann anders geschlafen hat.
    Ich brachte es nicht fertig, sie selbst zum Waisenhaus zu bringen. Das hat meine Mutter gemacht. Sie hat den Leuten dort erzählt, sie hätte das Baby auf der Straße gefunden. Wissen Sie, was das Schlimmste war? Ich wollte meiner Tochter und mir ein Erinnerungszeichen mitgeben, etwas, woran wir einander erkennen könnten. Deshalb habe ich das Oberteil genommen, das ich immer getragen hatte, wenn ich sie stillte, und legte es Kante an Kante neben das Hemdchen, das ich ihr anziehen wollte. Dann hab ich mit einem roten Kopierstift drei große Schriftzeichen halb auf das eine und halb auf das andere gemalt: Xinxin, zwei Schriftzeichen für Herz, und das Zeichen für Liebe. Ich hoffte, wir würden uns so erkennen, wenn wir die halben Schriftzeichen irgendwann in der Zukunft wieder nebeneinanderlegen könnten. Aber als meine Mutter vom Waisenhaus zurückkam, sagte sie, die Kinder dort würden alle das Gleiche tragen. Keines, so hatte man ihr erklärt, dürfte die Sachen behalten, in denen es ankam, und falls meine Mutter sie nicht mitnehmen wollte, würden sie einfach verbrannt. An diesem Abend hielt ich die restlichen Sachen von meinem Baby an mich gedrückt. Ich weinte nicht. Es war ein seltsames Gefühl, als hätte der entsetzliche Schmerz, den ich empfand, mir alle Tränen weggebrannt.
    Meine Mutter hat mir nie gesagt, in welches Waisenhaus sie Xinxin gebracht hat, aber ehe ich China das erste Mal verließ, machte ich mich in meiner Verzweiflung auf die Suche nach ihr. Schließlich fand ich heraus, welches Waisenhaus es gewesen sein könnte, doch man hatte es inzwischen abgerissen und die einundzwanzig Kinder auf vier andere Häuser in Nachbarstädten verteilt. Wohin war meine Tochter gekommen? Jedes Mal, wenn ich nach Hause reise, gehe ich anderen Spuren nach. Als ich die Rote Mary kennenlernte, konnte sie mir einige Informationen beschaffen, die mich aber nicht weitergebracht haben, weil die spärlichen Adoptionsunterlagen der Behörden ein streng gehütetes Geheimnis sind. Bislang hab ich nur rausfinden können, dass meine Tochter wohl tatsächlich von einem amerikanischen Paar adoptiert wurde.«
    »Vielleicht ist die DNA -Technologie eines Tages so verbreitet, dass unser genetischer Fingerabdruck allgemein zugänglich gespeichert wird. Dann könnten Sie Ihre Tochter mühelos finden. Falls dem so wäre, würden Sie sie zurückverlangen?«
    »Nein, das könnte ich nicht.«
    »Weil Sie befürchten, Ihre Eltern würden sie nicht akzeptieren, oder das Gefühl hätten, das Gesicht zu verlieren?«
    »Nein, das ist mir mittlerweile egal. Ich hab meinem jetzigen Mann vor unserer Heirat von ihr erzählt. Er ist Amerikaner, und er liebt Kinder, daher ist er verständnisvoll. Ich könnte meine Tochter nicht von den Adoptiveltern zurückverlangen, weil ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie sehr westliche Familien an ihren chinesischen Kindern hängen. Ja, meine Tochter ist mein Fleisch und Blut und wird Teil meines Lebens sein, solange ich lebe. Aber sie ist auch ein Teil des Lebens ihrer Adoptiveltern geworden, die sich Tag für Tag, Jahr für Jahr um sie kümmern. Ich könnte sie nicht aus ihrer Familie reißen und allen das Herz brechen … Der Schmerz, den ich in mir trage,

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