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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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ansprach und darauf hinwies, bedankte ich mich und verwickelte sie in ein Gespräch. Mit der Zeit lernte ich, wie ich meine eigenen Wissenslücken nutzen konnte, um an die Geheimnisse chinesischer Frauen heranzukommen. Als Erinnerungshilfe, was mir die Frau im Bus über weibliche Wahrnehmung beigebracht hatte, lackierte ich mir immer nur einen einzigen Fingernagel. Ich nannte das meinen »roten Punkt«, so rot wie die Paprikaschote. Und jedes Mal, wenn ich im Laufe der Jahre dazu neigte, mich entweder überlegen oder unterlegen zu fühlen, ermahnte er mich, mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben.
    Aber im Umgang mit Beamten und sonstigen Bürokraten war diese Methode nie wirklich erfolgreich. Hier waren andere Fähigkeiten gefragt. Im November 2006 gab es ein radikales Umdenken in Chinas Adoptionspolitik, was prompt zu einem dramatischen Absinken der Adoptionszahlen führte. Plötzlich durften Adoptionswillige nicht mehr alleinstehend sein, und es wurde strikt darauf geachtet, dass sie nicht zu jung oder zu alt waren. Ausländische Adoptivfamilien grübelten über die Gründe hierfür. Hatte es etwas mit den Olympischen Spielen 2008 in Beijing zu tun? Plante die Regierung eine neue politische Kampagne, oder sollte die Ein-Kind-Politik abgeschafft werden? Besorgte Adoptiveltern und Adoptionswillige aus der ganzen Welt bombardierten The Mothers’ Bridge of Love mit E-Mails.
    Wir beschlossen, diesem Wandel in der Adoptionspolitik auf den Grund zu gehen, kamen aber nicht weit: Unsere E-Mails, Briefe und Telefonanrufe blieben sämtlich unbeantwortet, und das einzig Konkrete war eine Erklärung auf der Webseite des China Centre of Adoption Affairs ( CCAA ), in der um Verständnis für Verzögerungen bei der Bearbeitung von Anträgen gebeten wurde. Laut Anordnung auf Regierungsebene dürfen die Mechanismen der chinesischen Adoptionsbehörde Ausländern gegenüber niemals offengelegt werden. Dasselbe gilt übrigens für den Geheimdienst.
    Als jemand, der in China geboren und aufgewachsen und tief in der Kultur des Landes verwurzelt ist, weiß ich, dass man die Hintertür benutzen muss, wenn an der Vordertür »Eintritt verboten« steht. Viele glauben, dass man so ohnehin die verlässlicheren Informationen bekommt. Allerdings hat die Regierung jetzt, da Chinas Reformen fest etabliert sind, angefangen, diese heimlichen Informationskanäle zu legitimieren und unkonventionell zu nutzen. So lässt sie beispielsweise Fehlinformationen durchsickern, damit die Menschen gegenüber derlei inoffiziellen Informationen misstrauisch werden. Außerdem werden Informationen, die durch die Hintertür ans Tageslicht kommen, dazu verwendet, um Auseinandersetzungen an der Vordertür beizulegen, offizielle Quellen zu bestätigen oder Provinzregierungen schärfer zu kontrollieren.
    In den Jahren 2006 und 2007 versuchte ich es mit unterschiedlichen Methoden und konnte schließlich zu drei Beamten Kontakt aufnehmen, die auf verschiedenen Ebenen des Adoptionsverfahrens arbeiteten. Sie bestätigten mir im Wesentlichen die Richtigkeit der Gerüchte, die ich gehört hatte. Erstens hatte der Wirtschaftsboom an Chinas Ostküste den Lebensstandard angehoben, wodurch weniger Waisenkinder zur Adoption standen. Selbst die Zahl der Babys, die Wanderarbeiter mit in die Städte brachten, um sie auszusetzen, war erheblich gesunken. Es gab noch einen weiteren Grund, und der hing mit der neuen Politik zusammen, den Nordwesten Chinas zu erschließen, ein riesiges und bis dato unterentwickeltes Gebiet. Ziel war es unter anderem, die Provinzregierung durch die wirtschaftliche Entwicklung in die Lage zu versetzen, in dieser verarmten Region ein Netzwerk von Sozialeinrichtungen aufzubauen. Ausländer waren mehr als bereit, Chinas Waisenhäuser zu unterstützen, und die von ihnen zur Verfügungen gestellten Finanzmittel würden den Prozess beschleunigen.
    Ungeklärt war allerdings, wie für eine adäquate personelle Ausstattung der Waisenhäuser gesorgt werden sollte. Das Leben im Nordwesten war entbehrungsreich, der Bildungsstandard niedrig, und die Gehälter und Vergünstigungen, die Waisenhausmitarbeitern angeboten wurden, waren ausnahmslos niedriger als anderswo in China. In den Nordwesten versetzt zu werden war wie eine Reise in die Vergangenheit, und erfahrene Leute aus anderen Gegenden, vor allem solche mit Familie, zogen es eher vor, zu kündigen oder sich herabstufen zu lassen, als dort eine Stelle anzunehmen. Das vor Ort befindliche Personal war dagegen

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