Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
Vom Netzwerk:
diese Worte hörte, brachten sie mich ins Grübeln. War das Liebesleben unserer Generation wirklich so kaputt gewesen? Na erzählte mir, dass ihre einwöchige Affäre unerwartete Folgen gehabt hatte. Als sie das nächste Mal von der Uni nach Hause kam, bemerkte die Mutter den schwangeren Bauch ihrer Tochter. Die Eltern waren außer sich vor Zorn auf diesen Mann, der weder der Ehemann noch der Verlobte ihrer Tochter war und ihr keinerlei Sicherheit bot. Sie waren stets höflich distanziert miteinander umgegangen, aber jetzt hatten sie einen lautstarken Streit. Der Vater wollte Na zur Abtreibung zwingen. Die Mutter war dagegen. Sie sagte, das Baby wachse bereits im Mutterleib heran und könne nicht einfach so getötet werden. Aber in einem waren sie sich einig: Durch Nas Schande hatte die ganze Familie das Gesicht verloren, sogar einschließlich vorangegangener Generationen. Also beschlossen sie, ihr ganzes Geld dafür auszugeben, ihr einziges Kind in den USA studieren zu lassen. Sie sollte gleich nach dem Geburtsmonat abreisen und möglichst für immer dort bleiben, sich Arbeit und einen Mann suchen und keine weitere Schande mehr über die Familie bringen.
     
    »Meine Tochter war ein ›Herbstbaby‹, voll entwickelt und vier Kilo schwer«, erzählte Na. »Für die Geburt war ich zu einer Verwandten meiner Mutter gefahren, die weit weg lebte. Als die Kleine das erste Mal an meiner Brust nuckelte, war ich ungeheuer gerührt darüber, wie sehr dieses kleine Wesen mir vertraute und von mir abhängig war. Ich nannte sie Xinxin, ›Herz an Herz‹ – meines und ihres. Ich hatte dank Unmengen von gekochten Roten Datteln und Schweinefüßen reichlich Milch, und mein Baby wuchs zu einem drallen Engelchen heran. Nach der Entbindung buchten meine Eltern zwei Zimmer in einem Hotel in Changzhou für uns, weil uns in der Stadt niemand kannte. Meine Mutter hatte Sorge, ich würde nicht allein mit dem Baby fertig, deshalb teilten wir uns ein Zimmer, und mein Vater nahm das andere.
    Sie wollten, dass ich meine Tochter in ein Waisenhaus gebe, und sie bearbeiteten mich drei Tage und zwei Nächte lang mit einer Mischung aus Drohungen und gutem Zureden. Ich hielt meine Kleine im Arm, weinte, kniete vor ihnen nieder und flehte sie an, mich nicht zu zwingen, mein Kind wegzugeben. Auch sie weinten und flehten mich an, es zu tun. Wir weinten alle. Schließlich meldeten sich bei meinem Vater alte Herzprobleme, und er musste ins Krankenhaus. Meine Mutter und ich kümmerten uns abwechselnd um ihn und das Baby. Jedes Mal, wenn ich bei meinem Vater im Krankenhaus wachte, hatte ich panische Angst, meine Mutter würde unterdessen über meinen Kopf hinweg eine Entscheidung treffen und mich vor vollendete Tatsachen stellen. Bald wurde auch meine Mutter vor Erschöpfung krank. Wir waren fremd in Changzhou, und ich fand es extrem anstrengend, zwei alte Menschen und ein kleines Baby zu versorgen. Aber die kleine Xinxin gab mir die Kraft dazu.
    Eines Tages hielt mir meine Mutter eine Art Sterbebettrede. ›Unser ganzes Leben lang‹, sagte sie, ›haben dein Vater und ich uns bemüht, nach außen hin geschlossen dazustehen, damit niemand uns irgendwas Schlechtes nachsagen kann, wenn wir mal nicht mehr sind. Aber wenn unser einziges Kind sich entscheidet, als alleinerziehende Mutter zu leben, wie können dein Vater und ich dann nach Shanghai zurückkehren? Mal ganz zu schweigen davon, dass wir unsere letzten Jahre in Ruhe und Frieden verbringen wollten und nun nicht mal mehr unseren Freunden und Verwandten ins Gesicht sehen können. Ich hab dich nicht zur Abtreibung gedrängt, weil ich selbst Mutter bin und weil ich finde, dass es einem lebenden Wesen gegenüber ungerecht wäre, es einfach loszuwerden, aber wir sind so einem Leben, zu dem du und dein Baby uns nötigen werdet, nicht mehr gewachsen. Du bist zweiundzwanzig und unser einziges Kind, und seitdem du in meinem Bauch warst, haben wir uns daran erfreut, dich aufwachsen zu sehen. Du bist erst seit einem Monat Mutter und du willst deine Tochter nicht aufgeben, aber du hast nicht darüber nachgedacht, wie deine Eltern all die Empörung verkraften sollen, die dieses Kind auslösen wird. Ich flehe dich an, Tochter, ich flehe dich an! Du siehst doch, wie krank die Sache deinen Vater gemacht hat, und du siehst auch, wie krank sie mich macht … Ich habe mich erkundigt, die Kinder aus allen Waisenhäusern hier in der Umgebung werden von amerikanischen Paaren adoptiert. Wenn deine Tochter von

Weitere Kostenlose Bücher