Wolkentöchter
Ahnung, wie ich an dem Tag zurück ins Wohnheim gekommen bin oder was ich am Abend aß. Lachen Sie ruhig, aber ich hatte das Gefühl, als wäre seine Hand noch auf meiner Haut. Im Geist schob ich sie sogar auf meine Brust und dann nach unten, und ich malte mir die Lust aus, die Mann und Frau einander schenken können. Tagelang schwebte ich wie auf Wolken und spürte seine Hand auf meinem Körper.
An dem Wochenende waren meine Eltern, die inzwischen im Ruhestand waren, mit Freunden für drei Wochen in Urlaub gefahren, nach Guilin, und hatten mich gebeten, in der Zeit zu Hause zu wohnen. Ich tat ihnen den Gefallen. Die Wohnung war leer und verlassen, und während ich dort allein herumhockte, konnte ich noch immer die Hand des Professors spüren, als ob sie größer geworden wäre und mit mir machte, was sie wollte. Schließlich hielt ich es nicht länger aus. Unter dem Vorwand, mein Vater hätte ein paar Artikel ins Englische übersetzt und bäte den Professor, doch mal vorbeizukommen und einen Blick darauf zu werfen, ging ich zu ihm. Die ganze Uni wusste, wie gut sein Englisch war. Er überlegte kurz und sagte dann, seine Frau würde für eine Woche mit den Kindern zu ihren Eltern nach Hangzhou fahren, er hätte also abends Zeit, vorbeizukommen und behilflich zu sein.«
Ich hörte Na zu und wollte meinen Ohren nicht trauen, denn ihr Wagemut entsetzte mich auch noch so viele Jahre später. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Professor tatsächlich zu ihr nach Hause gekommen war. Aber das war er.
»Er kam mit einem großen Wörterbuch«, erzählte Na weiter, »und fragte mich, wo mein Vater sei. Ich antwortete, er habe kurz weggemusst und komme gleich wieder. Dann bot ich ihm an, eine Tasse Tee zuzubereiten. Während der Tee zog, entkleidete ich mich splitternackt, und dann trat ich mit dem Teetablett in der Hand hinter ihn. Er sah sich gerade die Bücher im Regal meines Vaters an und deutete, ohne sich umzudrehen, auf eine Werbebroschüre für den Neudruck der
Siku Quanshu.
(Eine riesige Textsammlung, die auf Anordnung des Quing-Kaisers Qianlong zwischen 1773 und 1782 zusammengetragen wurde.) ›Ach je! Die hätte ich mir furchtbar gern gekauft, aber leider kann ich mir das nicht leisten. Überlegt Ihr Vater, sie zu bestellen?‹
Ich antwortete nicht. Ich stellte einfach den Tee ab und trat dicht hinter ihn, die Hände an den Seiten.
Ich war ganz ruhig. Es war doch viel besser, mich jetzt diesem aufrichtigen Mann hinzugeben, als Gott weiß wem irgendwann in der Zukunft, und außerdem hatte ich ehrlich das Gefühl, ihn zu belohnen. Da ich nichts gesagt hatte, veranlasste ihn wohl das Geräusch meines Atems, sich umzudrehen. Er stand nur wenige Zentimeter von meinem nackten Körper entfernt. Er lief dunkelrot an, dann schloss er mich in die Arme, küsste und liebkoste mich gierig … So begann unsere Liebesaffäre in der Wohnung meiner Eltern. Die ganze Woche über lagen wir uns jede Nacht in den Armen.«
»Und in der ganzen Zeit ist Ihnen nie die Frage in den Sinn gekommen, ob er ein guter oder ein schlechter Mann war?« Ich wusste, dass viele Chinesinnen Schuldgefühle beim Liebesakt hatten.
»Er war einfach nur ein Mann. Unsere Generation ist anders als Ihre. Wir haben uns keine Gedanken gemacht über Schuld oder darüber, was gut und was schlecht ist.«
»Und danach?«, fragte ich unwillkürlich, weil ich mir den Konflikt zwischen den beiden Familien vorstellte.
»Es gab kein Danach. Am Ende der Woche holte er seine Frau und die Kinder ab und kehrte in sein Familienleben zurück. Es war nicht peinlich, wenn wir uns begegneten. Was mich betraf, nun, ich denke, das erste Mal ist bei jedem anders, oder? Jedenfalls redete ich mir das ein. Und meine Mitstudentinnen hatten offenbar alle Ähnliches erlebt. Er schien die Sache noch nüchterner zu betrachten als ich.
Kommen Sie, Xinran!«, sagte sie auf Englisch, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. »Es war Lust, nicht Liebe. Ich glaube, das ist der größte Unterschied zwischen unserer Generation und der davor und erst recht den Generationen davor. Für uns waren Sex, Zuneigung und Liebe von Anfang an unterschiedliche Bestandteile des Lebens, selbst für jemanden, der so unerfahren war wie ich. In der Generation meiner Eltern galt, wenn man die ersten beiden hatte, musste daraus zwangsläufig Liebe folgen, ansonsten war man ein Flittchen. Doch in Wirklichkeit habt ihr in einer verlogenen, repressiven Kultur gelebt.«
Als ich Nas Tonband abspielte und
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